Naomi Klein mit kontroversen Thesen
Frankfurt/dpa. - Es scheint Naomi Klein nicht zu stören, wenn man sie fragt, ob sie noch alle Tassen im Schrank hat. «Bestimmt werden viele Leute behaupten, dass ich durchgedreht bin. Ich bin da für alles offen», antwortet die in Kanada lebende Journalistin in einem Interview zu ihrem neuen Buch «Die Schock-Strategie».
Darin vertritt die 37-Jährige die These, dass sich zur Ausbreitung des Kapitalismus immer dann ideale Bedingungen finden, wenn die Menschen in einem Land oder einer Region auf irgendeine Art «geschockt» sind. Doch nicht nur das: Verfechter des reinen - von staatlichen Eingriffen ungestörten Marktes - hätten diese Schocktherapie auch immer wieder gezielt eingesetzt.
Die Instrumente der Schocktherapie sind aus Kleins Sicht vielfältig und zahlreich. Sie reichen von der Elektroschock-Folter unter General Augusto Pinochet in Chile über die Hyperinflation in Polen nach dem Ende des kommunistischen Systems bis hin zu den Verwüstungen durch den Hurrikan «Katrina» im August 2005 in New Orleans. Der Wiederaufbau der zerstörten Stadt geht nach Kleins Analyse mit einer nahezu flächendeckenden Privatisierung von Schulen einher, die «Schocks» in Polen und Chile erlaubten den jeweiligen Machthabern nach ihren Worten, soziale Sicherungen und staatliche Einflussnahme auf die Wirtschaft abzubauen. Die «Schocks» dienten dabei als willkommenes Mittel, Proteste der Bevölkerung möglichst klein zu halten.
Als einen der Hauptschuldigen hat die Autorin den 2006 gestorbenen Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman ausgemacht. Er plädierte für eine möglichst freie Marktwirtschaft. Friedman wetterte gegen staatliche Geldverschwendung und setzte auf die Selbstheilungskräfte des Marktes. Klein schreibt in ihrem Buch: «Je mehr die Weltwirtschaft seinen Rezepten folgte, ... desto krisenanfälliger wurde das System und produzierte mehr und mehr genau die GAUs, die Friedman als die einzigen Umstände identifiziert hatte, unter denen Regierungen noch mehr auf seine radikalen Ratschläge hören würden.»
Beispiele für ihre These hat Klein auch in China, Russland und im Irak ausgemacht. Am Beispiel der demokratischen Wende in Südafrika vor 13 Jahren erläutert sie, wie aus ihrer Sicht in Zeiten des Umbruchs Wirtschaftsexperten unter anderem von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds Druck auf neu gewählte Regierungen ausüben, um sie zu einer bestimmten Wirtschaftspolitik zu zwingen. So habe der Afrikanische Nationalkongress (ANC) nach der Machtübernahme beispielsweise nicht die Möglichkeit gehabt, wie geplant wichtige Industriezweige zu verstaatlichen. «Dieser Prozess der Infantilisierung ist bei Ländern im sogenannten Übergang weit verbreitet - neue Regierungen bekommen zwar die Hausschlüssel, aber nicht die Kombination für den Safe», schreibt Klein.
Aus Deutschland hat sie kein Beispiel parat. In einem Interview erklärt sie das auch mit der Geschichte des Landes: «Ich glaube, die Deutschen sind besonders schockresistent, weil sie genau wissen, was passiert, wenn eine Volkswirtschaft zusammenbricht und gefährliche Kräfte freigelassen werden.»
Aufsehen hat Klein zuvor vor allem mit dem Bestseller «No Logo!» erregt, in dem sie den Siegeszug von «Global Players» wie Nike kritisch beleuchtet. Einerseits hätten sich die Großkonzerne mit gigantischen Werbefeldzügen ganze Konsumenten-Generationen systematisch unterworfen. Andererseits verlegten sie ihre Produktion ebenso systematisch in Freihandelszonen der Dritten Welt, wo sie von Niedrigstlöhnen profitierten. Auch wenn viele Leser mit ihren aktuellen Thesen nicht einverstanden sein werden, das Buch ist flott und spannend geschrieben. Die 658 Seiten (ohne Anmerkungen) lesen sich größtenteils spannend wie ein Krimi.
Naomi Klein
Die Schock-Strategie
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
768 Seiten, Euro 22,90
ISBN 978-3-10-039611-2