1. MZ.de
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Moskauer Geheimdossier: Moskauer Geheimdossier: Verhör im Hause Stalin über den abwesenden Herrn Hitler

Moskauer Geheimdossier Moskauer Geheimdossier: Verhör im Hause Stalin über den abwesenden Herrn Hitler

Von Christian Eger 04.04.2005, 17:43

Halle/MZ. - Auf den ersten Blick noch so ein Schmöker in Sachen Hitler, der jene krautige Portion an Führer-Klatsch und -Grusel liefert, die hierzulande die Hitler-Hörigkeit abgelöst hat. Auf den zweiten Blick dann doch ein alltagshistorisch relevantes Dokument, das die engere Welt um den Diktator aus der Froschperspektive von zwei Hitler-Bediensteten schildert.

"Das Buch Hitler" also: ein Dossier des sowjetischen Geheimdienstes, 1948 als Lektüre für Stalin zu Papier gebracht - als Resultat zahlloser Verhöre, die mit Hitlers Persönlichen Adjutanten geführt worden sind: den SS-Offizieren Heinz Linge (Jahrgang 1913, Kammerdiener seit 1935) und Otto Günsche (Jahrgang 1917, Adjutant seit 1943).

Operation Mythos

Linge und Günsche gerieten im Mai 1945 in sowjetische Gefangenschaft, die sie ins Geheimdienstgefängnis Lubjanka führte. Das Wissen der "Gruppe Reichskanzlei" - als solche wurde Hitlers letzter Trupp gelistet - war für die Russen von einigem Interesse. In der ersten Stufe als "Operation Mythos" abgeschöpft, um zu rekonstruieren, ob überhaupt und wie Adolf Hitler zu Tode kam. In der zweiten Ermittlungsstufe interessierte die Russen einfach alles: das Dritte Reich gespiegelt im Aufstieg und Fall Hitlers, vorzugsweise präsentiert im Material von Klatsch und Tratsch. 413 Schreibmaschinenseiten zählte das Dossier, als es Ende 1949 Stalin übergeben wurde.

Der wird sich gut amüsiert haben, so sehr kommt das Dossier in Stil und Gehalt dem lachenden Sieger entgegen. Hitlers Alltag und Umwelt werden in fetten, funkelnden Farben gemalt: die Berghof-Residenz durchweg als "Schloss" bezeichnet, der Hitler- als "Faschistengruß" geführt, Sex und Crime werden erörtert, wo es nur möglich ist, der glücklose Hitler-Stalin-Pakt von 1939 hingegen in zwei kleinen Hinweisen versteckt. Viel Vergnügen also für Stalin, der die Akte wie einen Boulevard-Roman verschlingen konnte; er ließ denn auch das Dossier in sein persönliches Archiv einordnen. Eine Abschrift gelangte in die "Allgemeine Abteilung" des Parteiarchivs, wo sie von den Historikern Henrik Eberle - der in Halle lebt - und Matthias Uhl - der in Halle studiert hat - gehoben und aufwändig veröffentlicht worden ist.

Dass es diese Papiere gibt, ist dabei keine Neuigkeit; Auszüge gelangten immer mal wieder ans Licht, zuletzt in der 2004 von Ulrich Völklein gelieferten Dokumentation "Hitlers Tod. Die letzten Tage im Führerbunker" (Steidl). Nun liegt das Dossier komplett vor: Allein die Akte zählt 420 Buchseiten in der Eberle-Uhl-Ausgabe. Die Stärke des Reports liegt im Schlüsselloch-Blick auf Hitler; faktisch Ungeheuerliches ist nicht zu erfahren.

Papier-Orden für Göring

Das Dossier hebt wie filmreif an - "Sommer 1933. Die Sonne scheint auf den Wilhelmsplatz in Berlin" - und endet - ganz auf den einen Leser zugeschnitten - mit dem 8. Mai 1945: "Hitler selbst hatte aus Angst vor den Russen seinem Leben durch Selbstmord ein Ende gesetzt". Die Lektüre bestätigt, was man von Hitler weiß: Sein Vergnügen, selbst engste Getreue parodierend dem Spott auszusetzen. So empfiehlt er zum Beispiel, dem Dekor-verliebten Göring einen Orden aus Gold- und Silberpapier zu überreichen, er ahmt unter dem Gelächter der Runde Hindenburgs tiefe Stimme nach: "Es heißt, über Goebbels' Ministerium weht eine neue Fahne. Ich möchte das nicht".

Sadismus und Wahnsinn der Hitler-Clique werden im Fortgang des Reports physisch sinnfällig. Dabei bleiben die Erinnerungen selbstverständlich Gedächtnisspiele, die als Quellen - und nicht allein aufgrund ihrer Bearbeitung - mit Vorsicht zu registrieren sind. Die Herausgeber versuchen, dem Material mit Fußnoten Fasson zu geben, ein Vor- (von Horst Möller) und ein Nachwort werden aufgeboten. Ärgerlich blass bleibt die soziale und seelische Zeichnung der Hauptfiguren: nämlich Günsche und Linge. Letzterer wurde 1955 in den Westen entlassen, wo er mit 67 in Bremen starb. Günsche wurde 1955 in das Zuchthaus Bautzen überführt; ein Jahr darauf gelang ihm die Flucht nach Westen. Vor zwei Jahren starb Otto Günsche 86-jährig bei Bonn, erschöpft auch von seiner eigenen Zeitzeugenschaft. 1997 erklärte er über seine NS-Karriere, dass er "mit alldem nichts mehr zu tun haben" wollte.