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Moskau 1937 Moskau 1937: Die Geburt des Terrors aus dem Geist der Angst

Von CHRISTIAN EGER 14.12.2008, 18:44

HALLE/MZ. - Denn Karten sind Instrumente der Macht, im Krieg können sie zu Waffen werden. In einem Weltbürgerkrieg befand sich Moskau spätestens seit Hitlers Machtantritt in Deutschland und dem rasanten Erfolg national-autoritärer Regimes in Europa, die die Kommunisten vor sich her nach Moskau trieben.

So stammen die erhellendsten Moskau-Karten aus dem Bestand der deutschen Wehrmacht. Der Blick des Feindes ist scharf und auf das Wesentliche konzentriert. Ihn interessieren nicht die Standorte der Sehenswürdigkeiten und Museen, sondern die Staatsgebäude, Kasernen, Munitionslager und Krankenhäuser. Er markiert, wo der Geheimdienst seine Ämter und Gefängnisse betreibt, wo die Führung des Staates wirkt und wohnt.

Mit dem Prismenauge

Die deutschen Pläne von Moskau sind ein unentbehrlicher Leitfaden hinein in die Welthauptstadt der kommunistischen Bewegung. Auch Karl Schlögel, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität in Frankfurt an der Oder, greift auf diese Karten zurück, um in das Moskau des Jahres 1937 zu führen. Denn dieses Jahr begreift der Historiker als ein "Geschichtszeichen": "Chiffre für eine der größten geschichtlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts".

Es ist das Jahr des von Stalin entfesselten "Großen Terrors", der in Schockwellen über das Land zog und 1937 fast zwei Millionen Menschen ins Gefängnis brachte, rund 700 000 ermordete, 1,3 Millionen in Lager trieb. Mit dem Terror sollte eine neue Gesellschaft sozusagen physisch modelliert werden. Was nicht passte, wurde verschwiegen - etwa bei der Volkszählung von 1937 die Millionen von Menschenverlusten in Folge von Bürgerkrieg und Hungersnot - oder ausgelöscht. Man hat es bis heute viel zu wenig zur Kenntnis genommen, dass der im August 1937 erlassene Befehl Nr. 00447 ein Morden allein nach Quoten anordnete: Es wurde abstrakt und willkürlich festgelegt, dass 268 950 Menschen zu verhaften, davon 75 950 zu erschießen sind. Buchstäblicher "Schreibtischmord" also, um eine politisch und sozial homogene Landschaft herzustellen. Doch "Moskau 1937" bezeichnet nicht nur die Zäsur des Terrors, sondern auch die einer von der Realität völlig losgelösten Sozialphantasie, die die Weltkriegsangst notwendig mitzuerzeugen scheint, und die Schlögel unter dem Titel "Terror und Traum" raumgreifend beschreibt. Wobei der Terror auch daraus resultiert, einen Traum eins zu eins in die Wirklichkeit übertragen zu wollen.

Es ist ein monumentales, dabei leicht lesbares, populär und anregend verfasstes Geschichtswerk, für das Schlögel im März den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhalten soll. Eine Geschichte der Gleichzeitigkeit von Terror und Traum, die sich in 40 Kapiteln entfaltet. Wie mit dem Prismenauge eines Insektes schaut Karl Schlögel auf Moskau, das er aus vielen Blickwinkeln darbietet: dem des ausländischen Touristen genauso wie dem des Schulkindes, NKWD-Mannes oder Emigranten.

Lenin und Margarita

Von Bulgakows 1937 verfasstem Roman "Der Meister und Margarita" an über die Film-, Musik- und Vergnügungsindustrie, das Auto- und Architektur-Gewerbe bis hin zur allgemeinen Amerika-Verehrung 1937 (auch ein Pionierland!) und den Schauprozessen im Oktobersaal des Gewerkschaftshauses wird Moskau in der Totale gezeigt. Jedes Kapitel hat einen Schauplatz, das sich im Stadtbild findet.

So wurde als ein Traumbild aus Stein vom Mai 1937 an der Palast der Sowjets, das "größte Gebäude der Epoche", an Stelle der abgerissenen Christi-Erlöser-Kirche errichtet: ein von einer Lenin-Figur gekrönter Turmbau von 415 Metern Höhe, der keinen Vergleich mit den Wahnsinnsarchitekturen der Nazis zu scheuen braucht. Und da ist der Krieg gegen die eigene Bevölkerung, die Schlögel als "Verzweiflungshandeln einer ohnmächtigen Macht" begreift. Was heute als Stalins "System" bezeichnet wird, sei vielmehr ein "notdürftig beherrschtes", zur Machtsicherung immer neu "entfesseltes Chaos" gewesen: Panikhandlung im Zuge der Weltkriegs-Panik.

Weil der Bau den Deutschen als Orientierungspunkt für ihre Bomber diente, wurde die Arbeit am Fundament des Sowjet-Palastes 1941 abrupt abgebrochen, in der Baugrube schließlich 1960 das Freibad "Moskwa" eröffnet. 1995 wiederum verschwand das Bad, um den Boden für den Wiederaufbau der 2000 geweihten Erlöser-Kirche zu liefern. Ortsgeschichten also, die einen Stadt- und Weltbilderklärer wie Karl Schlögel erfordern, nicht zuletzt um jenen Millionen von Staatsterror-Opfern zu gedenken, die in der durchritualisierten Erinnerungslandschaft Europas keinen Ort des Gedenkens finden.

Karl Schlögel: Terror und Traum. Moskau 1937. Hanser, 811 S., 29,90 Euro.