Michel Houellebecqs "Serotonin" Michel Houellebecq "Serotonin": Autor treibt Mittelschichtler in die Verzweiflung

Halle (Saale) - Florent-Claude Labrouste ist ein Mann von 46 Jahren. Studierter Agrarökonom, vermögend, gehobene Pariser Mittelschicht. Er führt das Leben, von dem die Gelbwesten träumen. Zu Unrecht. Denn sein Leben, sagt Florent-Claude, bestehe „in einem schlaffen und schmerzvollen Zusammensacken“.
Keine Freude, keine Freunde. Um sich zu retten, probiert es der Untote mit der sozialen Rolle rückwärts. So wie Sterbende noch einmal die Menschen treffen wollen, die für sie eine Rolle gespielt haben, will Florent-Claude die von ihm verlassenen Gefährtinnen heimsuchen. „Ich wollte all die Frauen wieder sehen, die ich geehrt, die ich auf ihre Art geliebt hatte.“ Das freut den Leser.
„Serotonin“ von Michel Houellebecq: Komischer Realismus
„Serotonin“ heißt der neue, sofort auf Platz eins der deutschen Bestsellerlisten geschossene Roman von Michel Houellebecq (Link zum Kauf bei Amazon), des berühmtesten französischen Schriftstellers der Gegenwart. Serotonin wie das Glückshormon. Und wie jedes seiner Bücher ist auch dieses ein Report aus dem kalten Herzen der Gegenwart, das Houellebecq seit seinem ersten Buch die „Kampfzone“ nennt.
Das ist die notorisch übergriffige, alles vereinnahmende Waren- und Kontrollgesellschaft. Kunst, Kommunikation, Sex: Alles schon enteignet. Und das Glück? Das kann Florent-Claude nur noch aus einem Antidepressivum gewinnen. Glück durch Unglück - eine Houellebecq-Pointe. Leider mit Nebenwirkungen: Libidoverlust und Impotenz.
„Serotonin“ von Michel Houellebecq: Am Ende siegt immer irgendein „Konzept“
Als der Grundfrustrierte im Fernsehen erfährt, dass in Frankreich jährlich 12.000 Menschen von einem Tag auf den anderen vorsätzlich verschwinden, entdeckt er genau darin sein Lebensmodell. Er wechselt seine Wohnung gegen ein Hotelzimmer und beginnt seine Reise durch die Provinz. Er trifft Claire und Camille, die eine mit einem Alkoholproblem, die andere mit einem Kind. Er trifft den Milchbauern Aymeric, der gegen zerstörerische EU-Normen kämpft. Florent-Claude weiß, am Ende siegt immer irgendein „Konzept“, nicht die Wirklichkeit.
Um die geht es Houellebecq. „Ich bin schrecklich zugänglich für die Welt, die mich umgibt“, hatte er 1999 in einem Interview gesagt. Daran hat sich nichts geändert. Wenn Kafkas Wort stimmt, dass das Buch eine Axt sein muss für das gefrorene Meer in uns, dann ist Houellebecq ein Maschinengewehr.
Sein komischer Realismus zermalmt die Konventionen. Er stört den guten Ton. Sachlich und sprachlich zielt er auf die schärfste sagbare Pointe. Gern sexistisch. Gern pornografisch. Andererseits herrscht hier ein tiefer Ernst. Dass Florent-Claude gegen Ende des Buches mit einem Präzisionsgewehr unterwegs ist, scheint folgerichtig: „es ist nicht die Zukunft, es ist die Gegenwart, die dich tötet, die wiederkommt, um an dir zu nagen.“ Dass Houellebecq dieses Nagen mit Humor und Komik serviert, verstärkt es.
„Serotonin“ von Michel Houellebecq: Von Bluffern und Blendern
Houellebecq ist kein psychologischer, sondern ein gesellschaftlicher Schriftsteller mit satirischen Neigungen, ein böser Philosoph. Die 1968er-Bewegung gilt dem 62-Jährigen als das erfolgreichste kapitalistische Projekt der Geschichte. Dem ist Florent-Claude nicht gewachsen. In TV-Talkshows sieht er, „Idioten folgten auf Idioten, beglückwünschten sich zur Richtigkeit und Moralität ihrer Ansichten.“ Er hätte ihre Dialoge schreiben können. Verzweiflungs-Vermeidungs-Dialoge von Bluffern und Blendern. Als Leser meidet er Goethe: „dieses alte Rindvieh“, der „deutsche Humanist mit mediterranem Einschlag, einer der grauenvollsten Schwafler der Weltliteratur“.
Houellebecqs Figuren schwafeln nicht, sie spitzen zu. Das gibt ihn etwas Karikaturhaftes und Übergenaues. Unter diesen Effekten darf man nicht das Thema verpassen. „Unterwerfung“, der letzte Bucherfolg, war kein Roman über den Islam, sondern über die stete Unterwerfungsbereitschaft der geistigen Spitzen der Gesellschaft. Es geht um Macht. Und bei „Serotonin“ nicht um den Wahnsinn, sondern um die Liebe. Besser: um die Möglichkeit einer Liebe. „Die Außenwelt war hart, ohne Mitleid mit den Schwachen, und die Liebe blieb das Einzige, woran man vielleicht noch glauben konnte.“
Die wird hier in Gesten sichtbar. In einer beiläufigen Umarmung, die Florent-Claude überrascht. In der scheinbaren Ziellosigkeit seiner Wege, die aber immer die Nähe eines bestimmten Menschen suchen. Es führt, was fehlt. Einmal sackt Florent-Claude am Lenkrad seines Geländewagens zusammen. Er „schloss die Augen, seltsame kleine Stöße durchliefen meinen Körper, aber ich weinte nicht, offenbar hatte ich keine Tränen mehr“. Der Leser hat Michel Houellebecq, den rücksichtslosesten Empfindsamen der Gegenwartsliteratur. (mz)
Michel Houellebecq: Serotonin. Deutsch von Roland Kleiner. Dumont Buchverlag, 335 Seiten, 24 Euro (Bei Amazon kaufen)