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Martin Walser Martin Walser: Wir glauben mehr als wir wissen

Von CHRISTIAN EGER 16.02.2010, 18:06

HALLE/MZ. - Ich sage nur, dass ich mit dreiundsechzig aufgehört habe zu zählen." Denn: "Ich glaube nicht an Zahlen. Ich weiß, was man alles machen kann mit Zahlen, aber ich weiß auch, was man mit Zahlen nicht machen kann. Und doch macht. Ich habe aufgehört, das mitzumachen."

Feinlein macht auch anderes nicht mit. Das Mobbing, das Doktor Bruderhofer gegen Feinlein entfaltet, den er gern vom Hof gejagt sehen würde. Bruderhofers Anstrengungen, den Vorgesetzten öffentlich ins Unrecht zu setzen, betrachtet dieser abgeklärt: Alles das zeige nur, "dass er jünger ist und noch glaubt, recht zu haben sei möglich." Augustin Feinlein will niemanden mehr überzeugen, außer sich selbst. Klar geworden sei ihm das in schlaflosen Nächten: Bruderhofer "geht es um seine Karriere. Mir um mein Jenseits."

Rom ist überall schön

Was heißen soll: Feinlein will seine faktische Existenz, die sonderbar traurig ist, durch eine fiktive Existenz ersetzen, die endlich die erste vergessen machen soll. Mit so viel Nachdruck, bis das Fiktive ins Faktische umschlägt. Man muss eben nur daran glauben. Feinlein weiß: "Wir glauben mehr als wir wissen".

Das ist der Satz, um den Martin Walsers Novelle "Mein Jenseits" kreist. Ein Satz, über dem man den Verstand verlieren kann. Denn selbstverständlich muss Wissen etwas anderes als Glauben bleiben, das eine gibt es nur mit seinem Gegenteil. Man kommt auf die Frage, ob glauben wichtiger, also besser sei als wissen, und umgekehrt. Hier aber scheiden sich die Geister. Sowohl Glauben als auch Wissen ist ohne Anstrengung nicht zu haben. Was der Klinikchef sein "Jenseits" nennt, ist eine Gegenwelt, die geschaffen sein will. "Das Jenseits ist eine andauernde Leistung. Wenn man aus irgendeinem Grund erschöpft ist, stellt es sich nicht ein." So zeigt Walser seinen Feinlein beim Jenseits-Schöpfen.

Da ist das Alters-Jenseits, die Maske des komischen Alten: Eigenheiten ausbilden, die man den Älterwerdenden zugesteht, weil man weiß, dass man sie ihnen weder verbieten noch abgewöhnen kann. Rom als Kunst-Jenseits, wohin Feinlein gerne flieht. "Rom ist, wo du hinschaust, schön." Das Glaubens-Jenseits, das sich im Faible für Reliquien zeigt, die er in einer Schrift mit dem Titel "Mein Jenseits" zu verteidigen sucht. Die Reliquien führen an die Gründe des Glaubens: "Glauben, was nicht ist, dass es sei". Walser sieht es so: Der Wissende hat sein Wissen immer von einem Anderen. Der Glaubende beruft sich auf sich selber. Andererseits: "Die Bedingung, die allein den Glauben produziert, heißt Aussichtslosigkeit. So lange noch etwas möglich ist, glaubt man nicht."

Feinleins Aussichtslosigkeit ist die seiner Liebe zu Eva Maria, seiner einzigen Liebe, die er erst an seinen Patienten Richard Sandro von Wigolfing und nach der Lösung dieser Ehe ausgerechnet an Bruderhofer verliert, dabei hatte Eva einmal von immerwährender Liebe geschrieben, trotz Sandro und alledem. Feinlein muss begreifen: Du kommst nicht in Frage. Also, was tun? "Sich kaputtphantasieren. Das ist das Ziel." Egal, ob es Gott gibt oder nicht: "Ich brauche ihn."

Es ist eine schlanke, kluge und witzige, sich dramaturgisch und psychologisch wie zwangsläufig ereignende Novelle, die Martin Walser bietet, eine Novelle, deren unerhörtes Ereignis am Ende darin besteht, dass Feinlein die teuerste Reliquie am Ort stiehlt: eine Heiligblut-Reliquie, "das Millionending", das der Dieb im Wohnzimmer verstaut. Eine Tat, die zeigen will, dass es nicht die Dinge sind, sondern die Menschen, die Wunder wirken.

Verteidigung der Subjektivität

Walsers Novelle zeigt den 82-Jährigen in sachlicher, sprachlicher und seelenkundiger Hinsicht ganz auf der Höhe seiner Salonkunst - den Verlag Berlin University Press aber nicht: das Cover wie aus dem Computer gezogen, im Klappentext heißt Feinlein "Finli", Leerzeichen vor Kommas sind keine Seltenheit im Text. Der ist nicht etwa ein Plädoyer für oder gegen den Glauben. Er ist ein Plädoyer für das Selbstgewollte, das Selbstgewünschte. Walser ist viel zu sehr ein empfindsamer Aufklärer, um von Partei- oder Konfessionswut hingerissen eine Weltanschauungsanweisung hinzulegen, aber eine Weltanschauungs-Reflexion schon. So heißt das Werk "Mein" und nicht "Das Jenseits". Ein Büchlein, das hineinführt in Walsers zivile Poetik der Verteidigung der Subjektivität. Vorangestellt ist ein Motto des Mystikers Jakob Böhme: "Wer es verstehen kann, der verstehe es. Wer aber nicht, der lasse es ungelästert und ungetadelt. Dem habe ich nichts geschrieben. Ich habe für mich geschrieben." Jeder liest Walser, als sei er selbst gemeint.

Martin Walser: Mein Jenseits. Berlin University Press, 119 Seiten, 19,90 Euro