Marcel Reich-Ranicki Marcel Reich-Ranicki: Deutschlands berühmtester Literaturkritiker wird 85

Frankfurt/Main/dpa. - Am 2. Juni wird Deutschlandsmeistbeachteter und meistgefürchteter Literaturkritiker 85 Jahre alt.
Seine Heimatstadt Frankfurt gibt ihm zu Ehren zusammen mit dem ZDFund der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» abends einen Empfang in derPaulskirche. Als Laudatoren sind Ex-Bundespräsident Richard vonWeizsäcker, «FAZ»-Herausgeber Frank Schirrmacher und Moderator ThomasGottschalk geladen.
Die meisten Deutschen kennen Reich-Ranicki als Kopf des«Literarischen Quartetts» im ZDF. Von 1988 bis 2001 besprach er mitHellmuth Karasek, Sigrid Löffler (zum Schluss Iris Radisch) und einemwechselnden Gast in 77 Sendungen mehr als 400 Bücher. Das «Quartett»erreichte ein Millionenpublikum und hatte Macht: Was es besprach,egal ob Lob oder Verriss, wurde oft über Nacht zum Bestseller. «MRRs»Urteil ist oft hart, bisweilen unfair. «Die Klarheit ist dieHöflichkeit des Kritikers, die Deutlichkeit seine Pflicht undAufgabe», lautet sein Credo. Dabei lasse sich Grausamkeit «leidernicht immer ausschließen».
Das bekamen unzählige Schriftsteller zu spüren, allen voran GünterGrass. Dessen Roman «Ein weites Feld» bescheinigte er 1995 im«Quartett» und in einer «Spiegel»-Titelstory, er sei «wertlose Prosa,langweilig von der ersten bis zur letzten Zeile, unlesbar!» Grasswarf dem Kritiker gekränkt Größenwahn vor. Erst 2002 kam es zurAnnäherung. Inzwischen habe sich das Verhältnis zu seiner Freude«wesentlich verbessert», sagt der Kritiker heute. In einem Beitragfür ein Büchlein zum 85. hat Grass ihn gar aus der Ferne «umarmt».
Auch Autor Peter Rühmkorf kündigte dem Kritiker wegen des Grass-Verrisses die Freundschaft. Mit ihm hat sich Reich-Ranicki späteraber ebenso wieder vertragen wie - nach zehnjähriger Fehde - mitWalter Jens. Will er sich im Alter mit seinen Gegnern aussöhnen? «Ichkann nicht von einem Anliegen sprechen», sagt er, «aber wer immer dieHand zur Versöhnung ausstreckt - sie wird von mir nicht abgewiesen.»
Mit Martin Walser hat Reich-Ranicki noch eine Rechnung offen,unter anderem wegen Walsers 2002 erschienenen Skandalbuchs «Tod einesKritikers». Darin kommt ein jüdischer Literaturkritiker zu Tode, derunschwer als Reich-Ranicki zu erkennen ist. Seine Frau Teofila und erseien von dem Buch «tief getroffen», schrieb der Kritiker bitter.
Angesichts seiner Vita, die er in seiner millionenfach verkauftenAutobiografie «Mein Leben» beschrieb, ist das verständlich: Seinepolnisch-jüdische Familie wurde von den Nazis verfolgt, seine Elternund die seiner späteren Frau Teofila - mit ihr ist er seit mehr als60 Jahren verheiratet - kamen um. Dem Paar gelang die Flucht. ÜberUmwege, unter anderem als Diplomat in London und Lektor in Warschau,kam Reich-Ranicki 1958 nach Deutschland und machte sich zunächst alsscharfzüngiger Kritiker bei der «Zeit» in Hamburg einen Namen.
Von 1973 bis 1988 leitete er die «FAZ»-Literaturredaktion. NachEinstellung des «Quartetts» bekam er 2002 eine Solo-Sendung im ZDF,die allerdings nach neun Folgen eingestellt wurde. Doch noch immerschreibt er jede Woche eine Kolumne und verantwortet Rezensionen fürdie «FAZ». Unzählige Bücher und Aufsätze tragen seinen Namen. Ererhielt Auszeichnungen sowie Ehrendoktorwürden im In- und Ausland,obwohl er nie studiert hat.
Derzeit liest er stapelweise Essays für den fünften und letztenTeil des von ihm herausgegebenen Kanons deutscher Literatur, der imWinter abgeschlossen sein soll. Teil vier mit Lyrik ist gerade fertigund soll im Juli erscheinen. «Der Kanon ist die Frucht eines ganzenLebens der Beschäftigung mit Literatur», sagt er. «Ich möchte ihngern noch zu Lebzeiten zu Ende führen.» Urlaub macht er nur auf Druckseiner Familie oder Ärzte. «Verreisen ist in meinem Alter ohnehinnicht mehr so leicht.»
«MRR» muss bei allem Ruhm jedoch auch ordentlich einstecken. SeinErfolg als Kritiker und Autor habe oft Neider auf den Plan gerufen.«Ich wurde in meinem Leben häufiger beschimpft als gestreichelt, dochich grolle nicht: Auf diese Weise wurde Sorge getragen, dass dieBäume nicht in den Himmel wuchsen», sagt er über sich. Und er istdurchaus nicht frei von Eitelkeit: Sigrid Löffler etwa ekelte er imStreit um die Bewertung eines erotischen Romans aus dem «Quartett».
Seit mehr als 30 Jahren lebt Reich-Ranicki in Frankfurt, einerStadt, die er zwar nicht liebe, aber «so etwas wie meine Heimat»nennt. Seinen schriftlichen Nachlass hat er dem DeutschenLiteraturarchiv in Marbach vermacht. Er beschäftige sich täglich mitdem Tod, sagt er. «Ich fürchte die Nichtexistenz. Wenn das Lebenweitergeht - und man erfährt nichts mehr, man ist nicht mehr da.»