Magdeburg Magdeburg: Im Reich der Musik wird die blinde Seele sehend
MAGDEBURG/MZ. - Auch ansonsten hat der schöpferisch begabte Mann einen Haufen Probleme: Während ihm das Schumann-Lied "Ich grolle nicht" lupenrein über die Lippen kommt, kann er keinen Zusammenhang zwischen seinem Schuh und seinem Fuß herstellen. Und während er komplexe geometrische Körper mühelos erkennt, bleibt er angesichts einer Fernsehsendung ratlos.
Die 1986 uraufgeführte Oper, die Holger Pototzki jetzt für das Magdeburger Schauspielhaus inszeniert hat, basiert auf der berühmtesten Fallbeschreibung des Neurologen Oliver Sacks - und übersetzt wissenschaftliche Publizistik in Musiktheater. Denn selbst wenn Sacks die Geschichte seines Patienten mit großer Sym- und Empathie erzählt, kommt er dabei nicht um jene Passagen herum, in denen er die wissenschaftlichen Koordinaten seines Fachs absteckt. Und darum muss Manfred Wulfert in der Erzählerrolle zunächst jene Folge von "A"-Worten deklamieren, die ihm für die Beschreibung von Defiziten der Sinne und des Gedächtnisses zur Verfügung stehen: Amnesie, Aphasie, Agnosie ...
Mit seinem Bühnenbildner Andreas Jander und seiner Kostümbildnerin Alrune Sera hat Pototzki ein komplexes Arrangement gefunden, das den Prozess des Denkens und Erkennens selbst in den Blick nimmt: Zwischen zwei Zuschauertribünen öffnet sich ein Raum, dessen Raster und Schraffuren von vornherein auf Ordnungen - und auf deren Gefährdung durch blinde Flecken verweisen. Doktor P. selbst, den Roland Fenes gerade durch seine hoch konzentrierte Gestaltung so anrührend und verletzlich erscheinen lässt, trägt den allmählichen Kontrollverlust auf der Haut: Sein Anzug zeigt zur Hälfte noch das schematische Schwarz-Weiß, andererseits aber die erdige Einfarbigkeit. Der Riss geht längs durch den Menschen.
Unter dieser Prämisse versucht die Inszenierung, das Unsichtbare zu zeigen: Grob gepixelte Bilder auf den Gaze-Vorhängen, die den Bühnen- vom Zuschauerraum trennen, zwingen zur Ergänzung der fehlenden Details. Rasante Video-Einspielungen sorgen für Reizüberflutung und Informationsstau. Und unvollständige Raum-Gliederungen fordern zur Ergänzung des Mosaiks heraus. Dass auch die Stimmen dank der Mikroports seltsam körperlos bleiben, ist hingegen eher ein technisches Zugeständnis als ein dramaturgischer Eingriff.
Dem virtuos bis an die Schmerzgrenze getriebenen Sopran von Ute Bachmaier, dem weich modulierten Tenor von Manfred Wulfert und dem intelligent geführten Bariton von Roland Fenes aber kann dieses Problem nichts anhaben - zumal sie mit dem Streichquintett, dem Klavier und der Harfe unter der musikalischen Leitung von Adrian Prabava auf Tuchfühlung bleiben.
Bei ihnen ist die eklektische, in ihrer Verbindung von historischem Zitat und originärer Erfindung selbst als musikalischer Erinnerungsraum wirkende Musik des auch für seine Peter-Greenaway-Soundtracks bekannten Michael Nyman in besten Händen. Und dorthin - in das Reich der Töne - entlässt ja schließlich auch Doktor Sacks seinen Patienten, der sich mit Melodien Spuren durch den Alltag legt. Im Reich der Musik, so die tröstliche Botschaft, wird diese blinde Seele sehend.
Nächste Vorstellungen: 30. Januar, 19.30; 31. Januar, 15 Uhr