Lyonel Feininger Lyonel Feininger: Hier ist alles farbig!
HALLE/MZ. - Der Maler schwärmt von seinem 1929 bezogenen Atelier im Kopf des fünfeckigen Torturms der Moritzburg: "Vor jedes Fenster an der Ostseite habe ich je ein Bild aufgestellt, und das sieht so feierlich schön aus - darüber die kleinen Scheiben, im Spitzbogen endend, wirken diese Bilder wie in einer Kapelle."
59 Jahre alt ist der deutsch-amerikanische Künstler an diesem Frühlingstag in Mitteldeutschland, und so sehr mit sich selbst, seiner Tätigkeit und der gesellschaftlichen Lage einverstanden, wie es selten gelingt. "Es ist zu merkwürdig, wie ich hier mit einem Male ein neuer Mensch bin - die Farbigkeit, die Atmosphäre, mein Raum - alles trägt mich und regt mich an; die Konzentration ist so vollkommen."
Geigenhimmel? Frühlingsjubel? Tatsächlich wird hier ein Glücksfall eingefangen, der nicht allein das tätige Glück eines Malers beschreibt, in der richtigen Verfasstheit am richtigen Ort zu sein. Sondern auch der Glücksfall, dass der Ort in diesem Künstler ein so aufgeschlossenes Gegenüber findet. Über die Zeitspanne ihrer Begegnung hinaus werden Lyonel Feininger und die Stadt Halle fortan nicht mehr getrennt voneinander zu denken sein - in der allgemeinen Kunstgeschichte genauso wie in der Kulturhistorie vor Ort.
Über fünfzig Stufen hinauf
Fünfzig schmale Steinstufen sind es, die sich spiralförmig hinauf in das oberste Stockwerk des viergeschossigen, Anfang des 16. Jahrhunderts errichteten Torturms winden. Nur eine Person kann hier jeweils hinaufsteigen. Was hoch in den Turm geschafft werden soll, muss zerlegbar oder kleinteilig sein. Wie die Münzsammlung, die unter der Aufsicht von Ulf Dräger im obersten Turmzimmer deponiert ist. Regale, Kommoden, die Fensterborde: Alles ist belegt mit Kästen, Schachteln, Büchern. Aber bei aller Enge, die das heutige Interieur erzeugt, fällt doch eines sofort ins Auge: Wie großzügig, wie breit und hoch und tatsächlich einzigartig Atelier-geeignet dieses weiß gekalkte Einraumgeschoss ist, in dem Feininger - mit Unterbrechungen - vom Mai 1929 an bis zum Mai 1931 im Auftrag des halleschen Magistrates wirkte.
Klosterbruder mit Taschenlampe
Eine Stadtansicht war zunächst als Geschenk für das Oberpräsidium in Magdeburg bestellt worden; es wurden insgesamt elf Gemälde und 29 Zeichnungen daraus, die von der Stadt Halle für das in der Moritzburg eingerichtete "Städtische Museum für Kunst und Kunsthandwerk" angekauft worden sind. Der hallesche Malrausch hatte Gründe. Für Feininger, der am Bauhaus in Dessau als "Meister" ohne Lehrverpflichtung angestellt war, kam die Moritzburg-Offerte zur besten Zeit. Denn einmal mehr drohte in Dessau der Dauer-Clinch zwischen "Künstlern" und "Handwerkern" zu eskalieren. Im Juni 1929 ergriff der Maler Oskar Schlemmer die Flucht vor dem auf Markttauglichkeit ausgerichteten Bauhaus-Kurs des Direktors Hannes Meyer. "Ja, nun geht Schlemmer", schreibt Feininger von Halle aus an seine Frau, "nächstens wir, und was dann? Wir sind ja entbehrlich geworden, aber unsere schöne Malergemeinschaft hat ein Ende." In Halle, hoch über der Altstadt, zog sich Feininger auf sich selbst zurück. "Hier in meinem Turm kann ich so etwas wie ein Klosterbruder sein; das ist für mich so schön; und in meinem Geiste ordnet sich das aufgestapelte Chaos der letzten zehn Jahre, wird zum Reichtum - vielleicht dem Reichtum eines alten ,Museums´?"
Die Burg genoss der Maler in vollen Zügen: Mit der Laterne zog er zur Nacht durch die Sammlungen, die er fotografierte. Am Tage drehte er die Staffelei mit dem Sonnenlicht, das den Turm umwanderte. Er genoss es, den Museumsdirektor Alois Schardt auf eine Zigarre ins Atelier zu locken. Aber "am Schönsten ist, wie ich plötzlich im Farbtaumel lebe! Ich bin sicher, daß ich niemals in Dessau so sein könnte. Hier ist einfach alles farbig, belebt, anregend." Ein Romantiker spricht hier, aber einer von der unaufdringlichen und anregenden Sorte. Wann wird man den Halle-Briefwechsel zwischen Lyonel Feininger und seiner Ehefrau in einer eigenen, schön gestalteten Buchausgabe lesen können?
Es würde sich lohnen: So sprechend und detailfreudig ist das Notierte in Sachen Halle, Kunst und Feininger. Letzterer erfüllte auch als Auftragsmaler keine stereotypen Erwartungen. Das Postkartenmotiv von der Burg Giebichenstein zum Beispiel lieferte er nicht.
Statt dessen zeigte er die engen, in Raum und Fläche schwer auflösbaren Situationen der Altstadt -prismatisch gebrochen, farbig überblendet: viermal die Marktkirche, jeweils zweimal den Dom und den Roten Turm (Fassung 1 vermisst), die Bölbergasse (1945 in Pommern verbrannt), den Trödel und "Die Türme über der Stadt". -Wie vor 80 Jahren wandert im Obergeschoss des Torturmes das Tageslicht von Ost nach West an den fünf spitzbogig eingefassten Doppelfenstern entlang. Rutscht über die lacklosen Holzdielen hinweg, die bereits Feininger zu Füßen lagen. Allein die in Blei gefassten, weiß-grünen Glaskaros der Fenster sind - nach den Originalen ausgeführte - Neuerungen der Nach-Feininger-Zeit. Nicht als Ausstellungsstätte wäre dieses Zimmer denkbar, nicht als eine gehobene bildkünstlerische Heimatstube, aber doch als eine Art Denkort oder Schau-ins-Land-Raum, so vollgesogen ist das Turmgeschoss von der Energie des Künstlers, des Bauwerkes, der Stadt ringsherum.
Stadt ohne Rahmen
Zwei Gemälde der Halle-Serie sind in der Moritzburg überkommen: "Marienkirche mit Pfeil" und "Der Dom in Halle". Die Bilder werden an der Südwand des Westflügels gezeigt, der sogenannten Feininger-Empore. An einem weißen Schubladenschrank vorbei, der Feiningers Halle-Zeichnungen, -Skizzen und -Fotografien präsentiert, tritt der Besucher ins Licht. Ein wandhohes Fenster gibt den Blick auf den Dom frei. Auf die Stadt ohne Rahmen: stark und tief, wie zum ersten Mal gesehen.