Literatur Literatur: Viel Betrieb ist in den Lüften
HALLE/MZ. - Ihren Auftritt um die von 1983 an zum Wohnhaus ausgebaute Dorfschule haben: Toula, das Schaf, das die Lämmer Jasmin, Arwen und Gawain zur Welt bringen wird. Da sind Igor der Moorschnuckenbock und Mascha das Schnuckenlamm. Cleopatra, die Schildkröte, und Bilbo, der Esel. Und Robert allen voran, der Neufundländer. Der läuft bei Fernsehaufzeichnungen am Wohnsitz der Sarah Kirsch "durch die Bilder als schwarzer Faden".
Am 7. März 1985 beginnen die Tagesnotate in Prosa und Lyrik, die am 15. Dezember 1987 ihren Abschluss finden. Zweieinhalb Jahre also, in denen Deutschlands bedeutendste Dichterin der Gegenwart Blicke in ihren Alltag als Schriftstellerin, Landwirtin und Zeitgenossin gestattet. 49 Jahre alt ist zu Beginn der Tagesnotizen Sarah Kirsch, die 1935 im thüringischen Flecken Limlingerode geboren wurde, von 1954 bis 1958 Biologie in Halle studierte, wo sie bis 1968 lebte, um 1977 schließlich von Ost- nach Westberlin überzusiedeln.
Nun aber die im Buch eingefangenen frühen Tielenhemmer Jahre, die nach den Jahrzehnten in Halle und Westberlin die Einkehr der Autorin in die Landschaft beschreiben. Nicht allein in das nordwestdeutsche Gelände, sondern überhaupt in den geistigen und sinnlichen Grund der Poesie der Sarah Kirsch, die als Dichterin eine moderne Landschafterin ist. Zwei in diesem Zusammenhang wichtige Gedichte liefert das Tagebuch mit.
Das titelgebende Verswerk "Krähengeschwätz", das den Monolog einer Krähe notiert: "Mein Richtstern ist ein faust- / Großer Planet und mein Kompass / Liegt auf dem Grund der See (...)". Im Überblick der Krähe, die ein Raubvogel ist ("entstamme einer Familie von Wölfen"), zeigt sich die Trotz-alledem-Weltanschauung der Dichterin ("aber die Hoffnung will tanzen"), die von den Menschen wenig, von der Natur alles erwartet. Und da ist das Gedicht "Eremitage", das die Verfasserin in ihrer ländlichen Einsiedelei zeigt: "Keiner weiß viel und weise / Ist niemand unter den Menschen / Jung war ich vor langer Zeit / Eine Abtrünnige lebe ich / Zwischen den Meeren (...)". Und dort lebt Sarah Kirsch mit hohem Vergnügen.
Denn, erstens, hat sie alle Hände voll zu tun: Rosen hegen, Stecklinge ziehen, Kakteenlisten ordern, Vögel bestimmen, alles über Schafe lesen. Und, zweitens, herrscht auf dem Dithmarscher Land eine schrille Hektik: "Mannigfacher Betrieb in den Lüften. Enten und Gänse fliegen hindurch, verkorkte Rotweinflaschen wie ichs beschrieb. Die Lerchen brüllen den ganzen Tag, und Kiebitze quieken, Amseln und Drosseln flöten ihre Liedchen."
Trotzdem muss die Dichterin ab und an das quicklebendige Idyll verlassen. "Alphabetisierungsreisen" nennt die Kirsch ihre Lesetouren. Kaum abgehakt, jubelt sie wie am 23. "Julius" 1987: "Ich komme schnell wieder zu Rosen und Schafen". Man denkt an den Gedichtbandtitel "Sterne und Schafe" des mitteldeutschen Lyrikers Heinz Czechowski. Und siehe da, ein halbes Jahr darauf: "Kurz vor 21 Uhr ist hier gestern Czecho mitm Taxi gelandet", der aus der DDR meldet, dass "alles beim alten im Ländchen" sei: zuverlässig miserabel.
Prosatafeln von ausgesuchter Schönheit bietet dieses Landlesebuch. Sarah Kirsch zeichnet nicht, sondern aquarelliert in Sprache. Ihre Landschaften haben Weite, Tiefe, Farbe, nicht etwa nur begriffliche Kontur. Mai 1985: "Der Himmel ist von feuchter Wollgrasfarbe in diesem verspäteteten Frühjahr (...) Kein Hauch liegt in den Lüften, eine milde Verwunderung bildet sich aus über dem grünenden Land, während der Kuckuck anhaltend ruft." Einmal ist zu lesen, dass "man hätte lang hinschlagen können vor Begeisterung". In der Tat.
Dichterreisen zu Andersen (für ",Des Kaisers neue Kleider' hätte er den Nobeller posthum bekommen müssen") etwa und Theodor Storm. Esels-Träume ins Land hinein ("ich sei auf einem Esel ins Moor geritten") oder hin zum Meer, letzterer endet: "es lohnt sich nicht, ein Mensch zu sein". So ist die gesellschaftlich-politische Welt auch nur eine mediale Randerscheinung in diesem Buch: Flugzeugentführungen, Tschernobyl, Barschels Tod.
Wie noch immer unbestechlich und "vorbildlich schleimlösend" (Adolf Endler) Sarah Kirschs Seitenblicke auf die DDR-Situation. 25. November 1987: "Zur Zeit rollt der 10. Schriftstellerkongress der Deutschen Demokratischen DDDR und hier verwechseln sie alles aus Mangel an Durchblick. Sie glauben Hermlin sei mutig, weil er Harich tadelt, dabei hat der nie eine Rolle gespielt. Wenn es Hager gewesen wäre, alles Quatsch und Sherry Brandy, dieser Hermelin als Ehrenmann seit Jahrzehnten das ist ne ulkige Leistung sondergleichen. Und was hat er denn geschrieben? Schweinefutter ohne Geist und Feuer: Sie sind tote Enten auf ihrem Kongress". Bis heute wahr.
Wie man so ein Buch zu lesen hat? Nicht hintereinanderweg, sondern über die Seiten springend, vor und zurück. Nicht jedem zum Beispiel ist ein näheres Interesse für die Schäferei gegeben. Aber für ein Album, durch das man streift, wie man durch eine Galerie spaziert.