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Literatur Literatur: Ein Leben zwischen Fremdsein und Entfremdung

Von Wilfried Mommert 08.11.2005, 09:08
Carola Stern, aufgenommen beim Fototermin anlässlich der Präsentation des ARD-Dokudramas «Doppelleben - Carola Stern» am 01.09.2004 in Köln (Archivfoto). Die Schriftstellerin und Publizistin wird am 14. November 80 Jahre alt. (Foto: dpa)
Carola Stern, aufgenommen beim Fototermin anlässlich der Präsentation des ARD-Dokudramas «Doppelleben - Carola Stern» am 01.09.2004 in Köln (Archivfoto). Die Schriftstellerin und Publizistin wird am 14. November 80 Jahre alt. (Foto: dpa) dpa

Berlin/dpa. - «Heimat kann zur Fremde werden», erinnert sichCarola Stern an die erste Zeit der Wiedervereinigung, als die 1925auf Usedom geborene Schriftstellerin und Publizistin die Jugendzeitenwieder aufleben lassen wollte. «An der Entfremdung trugen beideSeiten Schuld: ich, die aus der DDR geflüchtet war, und Menschen, diedort geblieben waren», schrieb Stern, die am Montag (14. November)ihren 80. Geburtstag feiert, im christlichen Magazin «Chrismon».Inzwischen lebt die Autorin mit Berliner Wohnadresse im Sommer auchwieder «zuhause» am Achterwasser.

Aber das war nicht die erste Erfahrung mit Fremdsein und Entfremdung im wechselvollen Leben der Carola Stern, die überJahrzehnte eine der vernehmlichsten publizistischen Stimmen imNachkriegsdeutschland für Menschenrechte und Gewaltfreiheit in Ostund West war. Lange Zeit stand ihr Name für meinungsbildendenJournalismus mit dem Mut zu keineswegs immer mehrheitsfähigenAnsichten ohne ideologische Scheuklappen. «Die Stimme warunverwechselbar», erinnerte sich einer ihrer damaligen politischenAnhänger, Alt-Bundespräsident Johannes Rau.

Ihrem Engagement war es zu verdanken, dass die von ihrmitbegründete und geleitete deutsche Sektion derGefangenenhilfsorganisation Amnesty International, zur weltweitgrößten Sektion wurde. Sterns Stimme hatte Gewicht. Dasleidenschaftliche Eintreten für die Ostpolitik Willy Brandts führtedas ehemalige SED-Mitglied Stern auch mit den Literatur-Nobelpreisträgern Heinrich Böll und Günter Grass zusammen. Grassmeinte über seine Weggefährtin im Geiste: «Streitbar, streitbar -daran sollten sich die Jungen heute ein Beispiel nehmen.»

Ein anderer Schwerpunkt in ihrem Engagement und ihrer Arbeit wurdebald die Frauenbewegung. «Was haben die Parteien für die Frauengetan?» fragte Stern 1976 als Herausgeberin einer Textsammlung. DasFrauenthema schlug sich in mehreren Büchern nieder wie etwa in denBiografien von Rahel Varnhagen und Dorothea Schlegel, deren Leben alsaufgeklärte Frauen der Romantik Stern faszinierte. Die Arbeit an derVarnhagen-Biografie beschrieb die Autorin 1994 als «die glücklichsteZeit meines Lebens am Schreibtisch».

Aber auch einer so schillernden Person der Glitzerwelt der 20erJahre des vergangenen Jahrhunderts wie die Schauspielerin und DiseuseFritzi Massary, die seinerzeit als die bestangezogene Frau von Berlingalt, widmete Stern eine Biografie, ebenso den Künstlerpaaren HeleneWeigel und Bertolt Brecht sowie zuletzt Gustaf Gründgens und MarianneHoppe («Auf den Wassern des Lebens», Kiepenheuer & Witsch).

Als Sensation galt ihr Bekenntnis in ihrer 2001 erschienenen undverfilmten Autobiografie «Doppelleben», in der Nachkriegszeit imAuftrag des amerikanischen CIA in die SED eingetreten zu sein undSpionage betrieben zu haben. Manche attestierten ihr dabei eine«Selbstdemontage». Nach der Flucht in den Westen legt sich dieAutorin, die unter Hitlers Regime als Erika Assmus aufwuchs und einejugendliche Begeisterung für die Nazi-Phrasen hatte, das PseudonymCarola Stern zu. Später wird sie von sich sagen, sie habe eigentlich«neun Leben gelebt» auf der «Suche nach einem Vaterland der Liebe undGerechtigkeit». Auch eine «Sucht nach Zugehörigkeit» gesteht sie ein.

Nach dem Besuch der SED-Parteihochschule in Kleinmachnow beiBerlin und der Tätigkeit als Lehrerin in der DDR siedelte sie schonbald (1951) in den Westen über. Nach ihrer Arbeit als Lektorin imVerlag Kiepenheuer und Witsch war sie von 1970 bis 1985 Kommentatorinbeim Westdeutschen Rundfunk. 1964 veröffentlichte sie mit «Ulbricht»eine erste Biografie über SED-Chef Walter Ulbricht, die sich auch alsFrühgeschichte der DDR lesen lässt. Stern erhielt zahlreicheAuszeichnungen und wurde unter anderem mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille und der Hermann-Kesten-Medaille des westdeutschen PEN-Zentrums geehrt. Von 1987 bis 1995 war sie PEN-Vizepräsidentin undist seitdem Ehrenpräsidentin dieser Schriftstellervereinigung.