Letztes Konzert in Halles Schorre Letztes Konzert in Halles Schorre: Ewiger Rebell - Was Rio Reiser damals sagte

Halle (Saale) - Den Kopf lehnte Rio Reiser in die Hände, die Hände stützten sich auf die Arme, die Arme stemmten sich in die Theke. Es ist ein früher Nachmittag im Mai vor 25 Jahren und der Mann mit dem Hut sitzt in der Bar des Interhotels in Halle, um über seine eben erschienene Autobiografie zu sprechen. Die hat er natürlich „König von Deutschland“ nennen müssen, obwohl er selbst nicht an hohen Verkaufszahlen und viel Geld, sondern ausschließlich daran interessiert war, „an der berühmten Legende der 68er zu kratzen“, wie er sagt.
Reiser hebt das Bier, es ist das fünfte oder sechste. Alkohol erreiche ihn nicht so wie normale Menschen, sagt er, und schaut aus müden Augen in die leere Hotelhalle. „Meine einzige Sucht sind die Zigaretten“, sagt er, „sonst bin ich von allen Drogen weg.“
Scherben! Rio! Wahnsinn!
Reiser, der in seinen Tagen bei Ton Steine Scherben zum Aufstand gegen das Establishment gerufen hatte, war als Solokünstler in den Charts angekommen. Der „König von Deutschland“, dreieinhalb Minuten ätzende Satire auf Deutschland, die Welt und sich selbst, war zum Aushängeschild des Menschen geworden, der als Ralph Möbius zur Welt kam, mit Ton Steine Scherben berühmt wurde und als Solokünstler Rio Reiser hin- und hergerissen blieb zwischen kommerziellem Erfolg und Verachtung für die Popbranche.
Unter dem Motto „Der Traum ist aus“ findet im Literaturhaus Halle, Bernburger Straße 8, am Freitag, 10. Januar, um 20 Uhr ein Konzertabend zum 70. Geburtstag von Rio Reiser statt. Es spielt die Band „Preliminary Injunction“ mit Scotti Gottwald (Gitarre), Ralf Schneider (Drums), Alexander Suckel (Klavier) und James Dietze (Bass), es wirken mit die Schauspieler Daniela Schober, Lena Zipp und Andreas Range.
Ein schwieriger Typ ist er, der nirgendwo richtig hineinpassen will, nicht einmal in die 68er Studentenbewegung, die ihn und seine Band zu ihrer amtlichen Kult- und Kampfkapelle erklärt hat. Für Rio Reiser ein Missverständnis. „Es gab keine Studentenbewegung“, versicherte er, „und es gab kein 68.“ Seine Scherben seien auch nicht das Aushängeschild der Bewegung gewesen. „Wir haben das gehasst wie die Pest.“
Spaß hat das 1970 in Berlin gegründete Quartett, das lange jeden Flirt mit der Plattenindustrie meidet, eher bei Auftritten in der Provinz, vor Lehrlingen, jungen Arbeitern und Schülern. „Ich bin kein Student“, betonte Reiser. Studentenbewegung werde das Ganze heute doch nur genannt, weil die Studenten von damals mittlerweile in den Medien säßen und gern davon träumen, „wie revolutionär sie alle mal waren. Dann kommen sie und sagen: Scherben! Rio! Wahnsinn!“
Solokünstler in den Charts
Reiser, als Solokünstler mit Auszeichnungen dekoriert, von früheren Fans aber als Verräter beschimpft, folgt auch nach dem Abschied aus der Szene der selbsternannten Revoluzzer trotzig einem eigenen Weg. Nachdem er mit dem launigen „König“ und der Ballade „Junimond“ Erfolg hatte, lässt er Reggae-Songs und Schlaflieder folgen.
Die nächste Platte dann hat keinen Namen mehr, ist aber voller elektronischer Klänge. Rio Reiser vermeidet es absichtsvoll, im Wettbewerb der großen Deutschrocker der 90er Jahre anzutreten: Grönemeyer, Westernhagen und Niedecken dürfen die Stadien haben. Rio Reiser tingelt durch klitzekleine Hallen, die oft nicht mehr voll werden. Und er ist es zufrieden. „Ich will mich nicht fangen lassen“, sagte er. Peter Maffay mache immer dieselbe Platte. „Ich könnte so nicht leben.“
Reiser sang „Der Traum ist aus“ vor 6000 FDJlern
Vom nordfriesischen Fresenhagen aus, wohin sich die Scherben zurückgezogen hatten, schraubt Rio Reiser an einer Karriere ganz eigener Art. „Wenn es nur noch darum geht, Geld zu verdienen, dann ist mir das zu blöde“, sagte er. Sein Kontostand sehe zwar ziemlich mies aus. „Aber damit lebe ich schon, seit ich Musik mache.“
Reiser, eigentlich immer schon mehr Poet als Rocker, komponiert die Musik zu einem Theaterstück, er spielt die Hauptrolle in einem „Tatort“, macht ein Musical, schreibt seine Autobiografie und produziert Platten von Freunden wie Lutz Kerschowski, dem Rocker aus der DDR, dem er 1988 bei seinen Auftritten in Ostberlin begegnet war.
Vor mehr als 6 000 FDJlern hatte Reiser dort „gibt es ein Land auf der Erde, wo der Traum Wirklichkeit ist? Ich bin sicher: Dieses Land ist es nicht!“ gesungen. Und die ganze Halle hatte die letzten Worte so laut mitgeschrien, dass der DDR-Rundfunk das Lied aus der Aufzeichnung schneiden musste.
Letztes Konzert in Halle
Ein Höhepunkt einer Laufbahn, die Reiser Mitte der 90er noch einmal auf die Bühne führt. Ein Konzert in der Schorre in Halle zeigt ihn singend, als balanciere er auf Scherben. Der Auftritt in Jena am nächsten Tag muss abgebrochen werden, weil Rio Reiser einen Schwächeanfall erleidet. Zwölf Wochen später kommt die Nachricht, dass Ralph Möbius mit nur 46 Jahren gestorben ist.
Das Ende ist das nicht, sondern der Beginn einer Wiederentdeckung, die aus Rio Reiser bis heute einen der einflussreichsten Rockmusiker deutscher Zunge gemacht hat. Ein Vierteljahrhundert nach seinem letztem Album „Himmel und Hölle“ spielen junge Bands seine Lieder nach, Fans wie Selig-Sänger Jan Plewka touren mit Reiser-Programmen, es gibt ein Rio-Musical und einen Rio-Reiser-Songpreis. Der Nachlass des Pop-Poeten hat einen Platz im Deutschen Literaturarchiv Marbach gefunden. Seine Lieder aber haben immer noch einen in unzähligen Herzen. (mz)
››Offizielle Internetseite: www.rioreiser.de