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«Leonce und Lena» - bitterböse Gesellschaftskritik

Von Ulrike Cordes 11.09.2008, 13:29

Hamburg/dpa. - Reihenweise, dicht an dicht, liegen bunte Schlafsäcke mit Obdachlosen auf dem schräg verlaufenden Bühnenboden. Aus dem Hintergrund hört man leise Musik und Stimmen.

Über dem niederen Volk, das hier vielleicht an einem Bahnhofsplatz nächtigt, taucht sein König auf, klettert achtlos über die Körper hinweg. Trotz militant wirkender achtköpfiger Begleitung erscheint dieser dürre Machthaber im dunkelblauen Einreiher und mit Stan-Laurel-Frisur (Peter Jordan) eher dürftig. Als bitterböse, brutale, entschieden in die Gegenwart geholte Mär vom desolaten Zustand des Staates und seiner Menschen interpretiert Dimiter Gotscheff am Hamburger Thalia Theater «Leonce und Lena», Georg Büchners melancholisches Lustspiel von 1836. Für ihre leidenschaftliche Deutung erhielten Gastregisseur und Ensemble zum Saisonstart großen Beifall vom Premierenpublikum.

Des Königs Miene zuckt, Hand und Stimme zittern, als er verkündet: «Ich muss für meine Untertanen denken, denn sie denken nicht.» Auch von «Gesellschaft im Umbruch» und «Vollbeschäftigung» posaunt er - um dann zu meinen: «Die Frage ist doch: Wo ist meine Hose?». Später wird kaum er den Schneid haben, seinem eigenen Sohn Heirat und Erbfolge ans Herz zu legen. Bereits die von Jordan eindrucksvoll gestaltete Einstiegsszene markiert die Aufführung dabei auch als Parabel auf den Zynismus und die Substanzlosigkeit kalter Macht: Beherrschte und Herrschende erscheinen ihrer menschlichen Möglichkeiten beraubt. Debil und körperlich verspannt kommen die Personen des dekadenten Königshofs daher. Es dominieren entseelter Aktionismus und Überdruss, Depression und Langeweile.

Die titelgebende bizarre Beziehung zwischen Leonce, Prinz von Popo, und Lena, Prinzessin von Pipi, ist hier daher nicht das Herzstück der Geschichte, sondern vielmehr ein Symptom eines kaputten Systems. Schon die Beziehung des Prinzen (Ole Lagerpusch) zu seiner bisherigen Freundin Rosetta (Olivia Gräser) erschöpft sich in Gebrauchswert und Respektlosigkeit: Als der spiddelige Jüngling, dem die Phrasen nur mühsam und stoßweise aus dem Mund kommen wollen, das Mädchen, das wie ein attraktives Model aus Osteuropa aussieht, nicht mehr haben will, sagt er «An die Arbeit, Valerio!» - und lässt es von seinem schrillen Begleiter, der sonst nichts besseres zu tun hat, vergewaltigen. Diesen Valerio (Andreas Döhler), der auf goldglitzernden Highheels («von Prada») stakst, jagt er wiederum wie einen Hund durch die Gegend («Lauf, lauf!»).

In seinem einzigen Lustspiel hat der mit 23 Jahren gestorbene hessische Sozialrevolutionär Büchner («Friede den Hütten! Krieg den Palästen!») ein Märchen formuliert, in dem Prinz und Prinzessin, die zur Ehe gezwungen werden sollen, jeweils nach Italien fliehen, sich dort zufällig kennenlernen und ineinander verlieben. Bei Gotscheff ist es eine Blondine im cremefarbenen Abendkleid (Katrin Wichmann), mit aufgelösten blonden Haaren und verschmierter Wimperntusche, die sich auf den Weg macht («Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal.»). Von ihrer androgynen Gouvernante (Victoria Trauttmannsdorff) lässt sie sich eine alberne Kindergeschichte vorlesen, um sich dabei auf dem Boden liegend selbst zu befriedigen. In dieser einsamen Gestalt findet Leonce im Thalia Theater nicht mehr als sein Spiegelbild - beide sagen ihre Worte synchron, als sie einander sehen. Reste von weiblichem Einfühlungsvermögen, mit denen Büchner seine Lena noch ausstattete, gibt es nicht mehr. «Das Ticken der Totenuhr in unserer Brust ist langsam», sagt der Prinz. Alles andere als Glück verspricht die Verbindung der beiden.

Ein kräftiger Zugriff mit eigener, stark aktualisierter Textfassung, teilweise drastischen Bildern sowie vor allem der für ihn typischen Konzentration auf intensive, hochkarätige Darsteller zeichnet Gotscheffs Arbeit aus. Zum Büchner-Stück hat der seit 1985 im Westen an ersten Häusern wirkende bulgarische Regisseur (65) eine besondere, lange Beziehung: Schon auf Studenten in Ost-Berlin soll seine Inszenierung vor mehr als 20 Jahren wie eine Theater-Offenbarung gewirkt haben. Seiner ersten Inszenierung des Lustspiels in seinem Heimatland Mitte der 80er Jahre folgte ein Arbeitsverbot: Das abgründige Werk habe ihn wohl zu sehr an die Zustände im totalitären Bulgarien erinnert, meinte er damals.

www.thalia-theater.de