Künstler aus Halle Künstler aus Halle: «Alles muss aus mir kommen»
Halle/MZ. - Entdeckt eine Frau am Fenster mit Handtuch-Turban auf dem Kopf - "Nach der Haarwäsche" nennt er das Bild. Oder er modelliert ein Neugeborenes in den Armen seiner Mutter auf einer Medaille - ein Augenblick, festgehalten für die Ewigkeit. Es ist spannend, das ganz normale Leben zu beobachten. Genau hinzusehen, wie er es seit mehr als 70 Jahren macht.
Entstanden sind auf diese Weise hunderte Kunstwerke: Zeichnungen, Ölbilder, Holzschnitte, Aquarelle, Exlibris und Medaillen. Sein kleines Atelier in Halles Innenstadt, er nennt es "Lager", droht aus den Nähten zu platzen. Jahrzehntelang war Bewersdorff Ateliernachbar des halleschen Malers Uwe Pfeifer am Universitätsring, doch der schlechte Zustand des Gebäudes zwang ihn vor zwölf Jahren zum Auszug. Nun geht er von seiner neuen Wohnung in der Emil-Abderhalden-Straße erst durch die Tiefgarage, dann ein paar Schritte über den Innenhof ins gegenüberliegende Haus, schon ist er in seinem Arbeitsraum. Hier gibt es an den Wänden, auf Tischen und Staffelei kaum einen leeren Fleck. Betritt man den Raum, fällt zuerst ein großformatiges Ölbild ins Auge, das den Künstlerkollegen Uwe Pfeifer zeigt, auf einem Stuhl sitzend. Freunde seien sie schon lange, trotz des Altersunterschieds, gingen aber völlig unterschiedlich an die Arbeit heran.
Bewersdorff interessiert bei der Menschen-Darstellung nicht die fotografisch genaue Abbildung. Er versuche, das Unverwechselbare einer jeden Person ins Bild zu setzen, Eigenarten festzuhalten. Ganz besonders gut gelingt ihm das in den vielen spontan entstandenen Handzeichnungen. Denn wo immer der Künstler auftaucht, hat er Stift und Zeichenblock dabei, in Konzerten, im Theater, bei Lesungen, Sitzungen, Festakten, Feiern. Ob einer am Rednerpult steht oder den Geigenbogen streicht, ob einer auf der Bühne tanzt oder im Fernsehen talkt - kein interessanter Künstler, Politiker, Sportler oder Wissenschaftler entkommt Bewersdorffs Feder. Und anschließend geht der Zeichenkünstler immer gleich zu dem Porträtierten, lässt sich das Werk signieren. Eine einzigartige Sammlung von Autogramm-Zeichnungen ist so zustande gekommen, die Bewersdorff demnächst einmal ausstellen will.
Zunächst aber bleibt es dem Atelierbesucher vorbehalten, auf engstem Raum zum Beispiel Juliette Greco und Marcel Marceau zu begegnen, Leonard Bernstein, Gisela May, Wolf Kaiser, Loriot, Günter Grass, Gustav Weidanz, Gerhard Lichtenfeld, Otto Dix, von Weizsäcker, Gorbatschow, Kissinger, Horst Köhler - das ist eine seiner jüngsten Arbeiten, und immer wieder Genscher. Bis 1997 saß Bewersdorff für die FDP im Stadtrat; Hans-Dietrich Genscher, dem Weltpolitiker aus Halle, ist er an den unterschiedlichsten Orten begegnet. Nun gratulierte er ihm zum runden Geburtstag, "er ist ja noch jung", schmunzelt der 87-Jährige.
Gleich neben dem berühmten Politiker ein anderer Promi, der in diesen Tagen von sich reden macht: der Boxer Henry Maske. Zweimal hat Bewersdorff, bekennender Freund des Boxsports, den Champion gezeichnet. 1993 war das, da sind sie sich bei einer Besprechung in einem Büro begegnet. Der Künstler zückte sofort den Stift, zeichnete und beließ es nicht dabei. "Ich habe ihm und Trainer Manfred Wolke Tipps gegeben",
sagt Bewersdorff. Tipps? "Ja", nickt er, "ich weiß, wovon ich rede. Wir hatten damals in Pommern vor dem Abi drei Jahre lang Boxunterricht, in dieser Zeit habe ich auch Max Schmeling kennengelernt".
Und welche Tipps waren das? "Mehr den Körper des Gegners zu treffen, nicht so sehr Gentleman zu sein." Eigenartig hört sich das an aus dem Mund dieses feinsinnigen, drahtig wirkenden Mannes. Und wie hat Maske reagiert? "Wir arbeiten da dran", habe er geantwortet. Und sich mit Unterschrift und ein paar netten Zeilen auf der Zeichnung verewigt. Wird sich der Maler den Kampf am nächsten Samstag anschauen? Auf jeden Fall, auch wenn er befürchte, dass es bei diesen Comebacks mehr um Gaudi und Geld als um Sport gehe.
Sich durchboxen - das musste Bewersdorff sein prall gefülltes Leben lang. Wenn er sich erinnert an die Kriegsjahre und das Lazarettlager ("es war die Zeit unserer Jugend"), wo ihn die Kunst am Leben erhielt, er in dem Kabarettisten Werner Fink einen wahren Freund fand, eine russische Ärztin ihm half unter Einsatz ihres Lebens, dann hat man die Bilder vor sich. Die Schuhe, die ihn 1948 bis Halle getragen haben, hat er gezeichnet. Berührt ist der Zuhörer vom Schicksal des Vaters, der auf dem Treck verschollen ist. Der ARD-Zweiteiler "Die Flucht" hat all das wieder hochgeholt. Obwohl, seine energische, liebevolle Mutter, die 98 Jahre alt wurde, und sein Vater, der Dorfschullehrer aus Bornzin, der ihn zur Geradlinigkeit ermuntert hat, sind sowieso immer in Bewersdorffs Gedanken.
Manchmal fährt der Künstler nach Polen, in seine alte Heimat. Viel verbindet ihn mit ihr. An der Akademie in Slupsk hat er eine Professur. 1935, mit 15 Jahren, hat er dort seinen ersten großen Holzschnitt geschaffen, eine Technik, die ihn nie wieder loslassen sollte. 2005 in der großen Ausstellung war auch diese Arbeit zum Thema Ostsee dabei. Und viele Motive zeigten sein geliebtes Halle, die Stadt, für die er sich jetzt beinahe 60 Jahre engagiert.
Generationen von Schülern und Studenten hat er als Lehrer zur Kunst erzogen, zum Sehen lernen, zum Erfassen des Wesentlichen. Das Erscheinungsbild der Martin-Luther-Universität hat er mitgeprägt, zehn Rektorenbildnisse, die 1964 neu entworfene Rektorenkette, unzählige Holzschnitte, Prägungen, Drucke, Urkunden und Kunstschriften gehen auf sein Konto. Nein, Aufträge will er nicht mehr übernehmen, "alles muss aus mir kommen". Die Familie ist wichtig, Freunde, mit denen man auf dem Balkon zusammen sitzt und über das Leben redet. Und die Freude auf Grillenberg, das Wochenendhaus im Harz, das er selbst Stein für Stein erbaut hat. Mit seinen Künstlerhänden? "Ich stamme vom Dorf", sagt Ullrich Bewersdorff, "da lernt man alles".