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Kreuzberger Kauz Kreuzberger Kauz: "Herr Lehmann" erscheint als Graphic Novel

Von kai agthe 26.10.2014, 11:35
Herrn Lehmanns Abstecher in die DDR gerät zum Desaster: Hier wird er von einem Grenzer verhört.
Herrn Lehmanns Abstecher in die DDR gerät zum Desaster: Hier wird er von einem Grenzer verhört. tim dinter Lizenz

halle (Saale) - Es ist eine Glaubensfrage, die auch 13 Jahre nach dem Ersterscheinen von Sven Regeners Roman „Herr Lehmann“ nicht entschieden werden kann: Ob beim Schweinebraten die Kruste überbewertet wird oder nicht. Sie entspinnt sich zwischen Frank Lehmann – den ambitionslosesten Bewohner, den West-Berlin vor dem Mauerfall gesehen hat – und der feschen Köchin Katrin, die nach dieser von beiden heftig geführten kulinarischen Diskussion zeitweise Franks Leben teilen wird.

Lehmann ist einer von zahllosen Zugereisten auf der Insel der Seligen namens West-Berlin. Bereits neun Jahre lebt Frank, den seine Freunde nur Herr Lehmann rufen, in Kreuzberg. Eine Zeit, die er ausschließlich hinter und vor den Tresen von Kneipen und Kaschemmen verbrachte. Auch das Jahr 1989 scheint, abzüglich seines bevorstehenden 30. Geburtstages, nichts daran zu ändern. Doch dann überrollen die historischen Ereignisse auch sein so geruhsames Dasein.

30. Geburtstag am 9. November

Sven Regeners Bucherfolg erscheint jetzt als Graphic Novel. Nicht zufällig, denn der Roman endet mit dem Mauerfall am 9. November 1989. Das ist auch der 30. Geburtstag von Herrn Lehmann. Das heißt, dass er in diesen Tagen, da an den 25. Jahrestag der Grenzöffnung erinnert wird, sein 55. Lebensjahr vollenden würde. Ob er heute noch immer der antriebslose West-Berliner wäre, dem schon schwindelt, wenn er von Kreuzberg nach Charlottenburg muss? Oder hätte die 89er Freiheit auch ihn beflügelt und ihm eine Richtung gewiesen? Denn immerhin klingt das Buch mit den Worten aus: „Erst mal los. Der Rest wird sich schon irgendwie ergeben.“

„Herr Lehmann“ erfreut sich solch großer Beliebtheit, weil der Roman ein anschauliches Bild vom alten West-Berlin und seiner Subkultur zeichnet, die es so nicht mehr gibt. Und, mehr noch, weil Frank Lehmann zu jenen literarischen Figuren zählt, die man als sympathische Verlierer bezeichnen und schon deshalb ins Herz schließen muss. Er ist aber auch ein komischer Kauz: Er mag, wie oben angedeutet, Schweinebraten nur ohne Kruste, er hasst Frühstücker und reagiert, wenn er mit „Herr Lehmann“ angesprochen wird, mit dem Ausruf: „Herr Lehmann und dann du zu sagen, ist das Übelste, was es gibt.“

Sven Regener, der sich vor seinem Romandebüt bereits als Sänger und Texter der Band „Element of Crime“ einen Namen machte, wurde mit „Herrn Lehmann“ aus dem Stand ein Erfolgsautor. Derart beflügelt, ließ Regener – der wie Herr Lehmann in den frühen 80er Jahren aus der Bundesrepublik nach West-Berlin zog – die Romane „Neu Vahr Süd“ (2004) und „Der kleine Bruder“ (2008) folgen, in denen die Vorgeschichte von Herrn Lehmann erzählt wird.

Der Berliner Comic-Künstler Tim Dinter hat sich nun des Herrn Lehmann angenommen. Wahrlich kein leichtes Unterfangen, weil des Lesers Bild von Lehmanns Frank fest zementiert ist: Einmal durch den Roman, dann durch die Verfilmung von Leander Haußmann. In dem Streifen von 2003 spielt Christian Ulmen, der auf verpeilte Figuren abonniert ist, Herrn Lehmann.

Tim Dinter wählt für seine Graphic Novel das klassische Comicstrip-Format. Der Künstler hat sich für eine schwarz-weiße Darstellung entschieden, setzt mehrere Bildsequenzen auf jede Seite und fügt wörtliche Reden in kantige Sprechblasen ein.

Auch die größte Schwierigkeit hat Tim Dinter mit Bravour gemeistert: Regeners Roman für seine Comic-Version zu verdichten und doch ganz nahe am Original zu bleiben. Er erzählt die Geschichte in 16 Kapiteln, an deren Anfang jeweils ein Prolog steht. Dinters Herr Lehmann ist kein Wiedergänger Christian Ulmens, sondern eine hagere Gestalt mit länglichem Gesicht und glattem, dünnem Haar.

Liest man Erinnerungen von Persönlichkeiten, die prägende Jahre in West-Berlin verbrachten, zeigt sich mit schöner Regelmäßigkeit, dass die „Zone“ zeit ihrer Existenz kaum eine Rolle spielte. Man pflegte die Mauer mit dem Hinweis zu ignorieren, dass sie ja die DDR einschloss, nicht West-Berlin. Herr Lehmann jedoch kommt in direkten Kontakt mit der größten DDR der Welt. Von seinen Eltern gebeten, einer Verwandten eine schöne Summe D-Mark zu überbringen, macht er sich auf nach Ost-Berlin.

Honecker bohrt in der Nase

Der Geldschmuggel wird entdeckt und Herr Lehmann einem Verhör unterzogen. Das ist bei Regener witzig zu lesen, weil Herr Lehmann das Politbürokraten-Deutsch des DDR-Offiziers nicht versteht. Und der Grenzer glaubt, der Bürger der „selbstständigen politischen Einheit West-Berlin“ wolle ihn verhöhnen, aber Lehmanns Hilflosigkeit ist echt. Die Befragung wird im Comic in einem Raum geführt, in dem das obligatorische Honecker-Bild hängt. So weit, so typisch für die Diktatur. Am Ende des Kapitels hat sich unter Dinters Feder das Foto jedoch verändert: Denn Erich bohrt jetzt in der Nase. Ja, so langweilig war es zuletzt selbst dem Abbild des Staatschefs.

Sven Regener: „Herr Lehmann“, gezeichnet von Tim Dinter, Eichborn Verlag, 233 S., 19,99 Euro (MZ)

Der Zeichner Tim Dinter
Der Zeichner Tim Dinter
dpa/Dinter Lizenz
Der Autor Sven Regener
Der Autor Sven Regener
dpa/Dinter Lizenz