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«Koba der Schreckliche» - Amis rechnet mit Stalin und seinem Vater ab

Von Erik Albrecht 01.10.2007, 10:44

Moskau/dpa. - Ein leidenschaftliches Plädoyer gegen das Sowjetsystem hat der britische Schriftsteller Martin Amis mit «Koba der Schreckliche. Die zwanzig Millionen und das Gelächter» vorgelegt.

In dem essayistischen Werk verurteilt der bislang als Romanautor erfolgreiche Brite die Grausamkeiten der Stalin-Diktatur. «Koba», der Spitzname Stalins, ist gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit der Bewertung der Sowjetunion durch westliche Intellektuelle. Für Amis (58) ist es allerdings unbegreiflich, dass die Russen zu allen Zeiten Witze über den sowjetischen Tyrannen Josef Stalin und dessen unvorstellbare Grausamkeiten machen konnten.

«Ein Regime wie dieses hat es in der ganzen Geschichte des Universums noch nie gegeben. Ein Regime, das seine Untertanen gleichzeitig vor Entsetzen, Unterkühlung, Hunger - und Gelächter - erzittern lässt», fasst Amis die Schrecken der Stalin-Herrschaft von 1924 bis 1953 zusammen.

Auf knapp 300 Seiten verwebt Amis die Werke von Zeitzeugen wie Alexander Solschenizyn oder Wassili Grossman und Historikern wie Robert Conquest zu einem drastischen Bild der Unmenschlichkeit. Aus einem «Regal voller Bücher» hat sich Amis nach eigenen Angaben sein Wissen über Stalin angelesen. Wirklich Neues präsentiert er in «Koba der Schreckliche» deshalb nicht.

In autobiografischen Passagen widmet sich Amis stattdessen der Frage, warum vor allem linke Intellektuelle in seiner Heimat Großbritannien die Sowjetunion Stalin nicht genauso entschieden verurteilen wie Hitlerdeutschland. «Da stimmt etwas nicht: Jeder weiß von Auschwitz und Bergen-Belsen. Niemand weiß von Workuta und Solowetzky», schreibt Amis über die sowjetischen Strafleger, den Gulags. Den Erklärungsversuch seines Vaters, der zu Stalins Zeiten selbst Kommunist war, lässt er nicht gelten: «In der UdSSR versuchen sie wenigstens, etwas Positives zu schaffen.»

Welchen Preis die Menschen in der Sowjetunion für Stalins Versuch zahlten, die kommunistische Utopie Wirklichkeit werden zu lassen und die «Realität zu brechen», lässt Amis seine Leser an keiner Stelle des Buches vergessen. Eindringlich schildert er einzelne Foltermethoden aus dem Gulag und den «Holodomor», die große Hungersnot in der Ukraine und Südrussland: «Terror wird auf Terror gehäuft, und noch mehr Terror, und noch mehr, bis Stalin, Meister der Eskalation, auf den unkonventionellen, ultimativen Terror verfällt: Aushungern.»

Amis hat ein Buch gegen das Vergessen geschrieben. In Form eines langen Essays listet er die Verbrechen Stalins auf. Er analysiert das Herrschaftssystem und die Persönlichkeit des körperlich kleinen Tyrannen, der selbst mehr als 50 Jahre nach seinem Tod noch die Menschen in Russland spaltet.

Dass Stalin damals wie heute in Russland Millionen Anhänger hat, scheint dem Autor fast körperliche Schmerzen zu bereiten. «In der UdSSR war Stalin ein außerordentlich populärer Führer», schreibt Amis. In Umfragen äußern 38 Prozent der befragten Russen, Unbehagen oder Hass gegenüber Stalin zu empfinden. Jedoch bekennen fast ebenso viele Befragte, immerhin 36 Prozent, dass sie für den gebürtigen Georgier weiterhin Hochachtung bis Sympathie hegen. Präsident Wladimir Putin führte zu Beginn seiner Amtszeit die Sowjethymne aus Stalinzeiten wieder ein.

Die zu Zeiten von Putins Vorgänger Boris Jelzin eingeleitete Aufarbeitung des Stalinismus ist längst gestoppt. In diesen Tagen streitet Russland über ein neues Lehrbuch für den Geschichtsunterricht. Darin beschreiben die Autoren den Terror mit seinen geschätzten 20 Millionen Toten euphemistisch als «Weg zur Modernisierung der Sowjetgesellschaft». Russlands Schüler werden vom kommenden Schuljahr an wieder lernen, dass Stalin «einer der erfolgreichsten Führer der Sowjetunion» war.

Martin Amis:

Koba der Schreckliche - 

Die zwanzig Millionen und das Gelächter

Carl Hanser Verlag, München

288 S., Euro 21,50

ISBN 978-3-4462-0821-6