Berühmt und berüchtigt Kinderbuch: Der "Struwwelpeter" wird 75 Jahre alt

Halle (Saale) - Und sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage!“ Ach nein, so etwas gibt es ja nur im Märchen. Im „Struwwelpeter“ gibt es kein Happy End. Niemals. Da verhungern die Kinder, weil sie ihre Suppe nicht essen wollten, verbrennen „ganz und gar“, weil sie gekokelt haben, oder werden von einer Böe auf Nimmerwiedersehen davongetragen, weil sie bei Sturm aus dem Haus gegangen sind. Nein, ein Happy End sieht nun wirklich anders aus. Oder?
Der Frankfurter Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann, der sich diese Szenen ausdachte, hatte aber durchaus ein Happy End im Sinn - und zwar im realen Leben, durch die abschreckende Wirkung seiner warnenden Geschichten. „Nicht umsonst sagt das Sprichwort: Gebrannter Finger scheut das Feuer“, schrieb Hoffmann 1892 in einem Brief an die Zeitschrift „Die Gartenlaube“.
Pädagik im Struwwelpeter: Im Mittelpunkt steht das Kind
Hierin legte er auch sein pädagogisches Konzept dar: „Aber das Abbild des Schmutzfinken, des brennenden Kleides, des verunglückenden Unvorsichtigen, das Anschauen allein erklärt sich selbst und belehrt.“ In der Psychologie nennt sich das heute Lernen am Modell. „Das Kind lernt einfach nur durch das Auge, und nur das, was es sieht, begreift es“, war sich der Frankfurter Psychiater sicher. 1844, als das Manuskript zu dem Buch entstand, war dieser Gedanke, der das Kind und die kindliche Art des Lernens in den Mittelpunkt stellte, keineswegs verbreitet. Zu dieser Zeit der Pauk- und Prügelpädagogik hatten Kinder vor allem brav und folgsam zu sein.
Auch wenn die Geschichten heute so Manchem die Haare ganz nach Struwwelpeterart zu Berge stehen lassen, so erfreuten sie sich bei ihrem Erscheinen doch großen Zuspruchs. Dabei hatte Heinrich Hoffmann seinem eigenen Bekunden nach gar kein Kinderbuch veröffentlichen wollen. Vielmehr war er auf der Suche nach einem Weihnachtsgeschenk für seinen eigenen Sohn Carl erfolglos geblieben und entschied sich so kurzerhand, selbst ein Bilderbuch zu zeichnen und mit Reimen zu versehen. Später las er seinen Freunden zur allgemeinen Erheiterung aus dem Büchlein vor und diese ermutigten ihn, die Geschichten zu veröffentlichen.
1845 wurde der Struwwelpeter erstmals veröffentlicht
1845 erschien die erste Auflage von 1500 Exemplaren unter dem Titel „Lustige Geschichten und drollige Bilder mit 15 schön kolorierten Tafeln für Kinder von 3 - 6 Jahren“. Hoffmann veröffentlichte vorsichtshalber noch unter dem Pseudonym „Reimerich Kinderlieb“. Nach vier Wochen war diese erste Auflage bereits ausverkauft, die zweite folgte unter dem Pseudonym „Heinrich Kinderlieb“. Die ursprünglich sechs Bildergeschichten wurden durch den „Zappel-Philipp“ und das zündelnde „Paulinchen“ ergänzt.
Erst ab der dritten Auflage nannte sich das Buch „Der Struwwelpeter“, und ab der fünften Auflage von 1847 trat Hoffmann auch mit seinem richtigen Namen in Erscheinung. Zudem fanden sich darin zwei weitere Bildergeschichten: die vom „Hans Guck-in-die-Luft“ und vom „Fliegenden Robert“, der besser seinen Regenschirm eher losgelassen hätte.
Struwwelpeter: Nach 21 Jahren kam die 100. Auflage
1859 kam schon die 28. Auflage auf den Markt, für die Hoffmann alle Bilder noch einmal neu gezeichnet hatte. Dies ist wohl die verbreitetste Fassung, die heute die meisten Leser kennen. 1876 kam die 100. Auflage heraus, 1917 bereits die 400. Auflage. Nachdem Mitte der 20er Jahre die Urheberrechte abgelaufen waren, druckten mehrere andere Verlage den „Struwwelpeter“ nach, so dass sich die Gesamtauflage heute kaum mehr ermitteln lässt.
Auch außerhalb Deutschlands kam das Bilderbuch mit seinen Reimen äußerst gut an. Schon kurz nach der deutschen Erstausgabe wurde der „Struwwelpeter“ in andere Sprachen übersetzt - bis heute sind es mehr als 40 verschiedene - und ging so um die ganze Welt. In seinen posthum erschienenen „Lebenserinnerungen“ schrieb Hoffmann: „Der Schlingel hat sich die Welt erobert, ganz friedlich, ohne Blutvergießen, und die bösen Buben sind weiter auf der Welt herumgekommen als ich.“ Auch etliche Nachahmungen und Parodien kamen auf den Markt, von „Die Struwwelsuse“ (1850) bis zur Comic-Version „Struwwelpeter: Das große Buch der Störenfriede“ (2009).
Struwwelpeter-Autor war erstaunt über Bucherfolg
Hoffmann selbst war schon angesichts des Erfolgs der ersten Auflage erstaunt: „Niemand war, das kann ich ehrlich versichern, über das blitzähnliche Einschlagen der bunten Geschichten mehr überrascht als ich; das hätte ich mir im Traume nicht eingebildet.“ Dass sein Buch selbst heute noch gelesen wird, konnte er Mitte des 19. Jahrhunderts natürlich nicht wissen.
Heinrich Hoffmann wurde am 13. Juni 1809 in Frankfurt am Main geboren. Er studierte von 1829 bis 1832 Medizin in Heidelberg und ab 1832 an der Universität Halle, wo er 1833 promovierte. Dann ließ er sich in Sachsenhausen als Arzt nieder. Mit seiner Frau Therese Donner hatte er drei Kinder. 1842 veröffentlichte er erste Gedichte, zwei Jahre später schrieb er das Urmanuskript des „Struwwelpeter“ für seinen Sohn Carl als Weihnachtsgeschenk. 1851 veröffentlichte er „König Nussknacker und der arme Reinhold“. Im Jahr 1888 pensioniert, starb Hoffmann am 20. September 1894 mit 85 Jahren in Frankfurt.
Dabei würde es so mancher Pädagoge lieber im Giftschrank verschwinden lassen und fürchtet durch die gewalttriefenden Geschichten mit beißenden Hunden, um sich schießenden Hasen und daumenabschneidenden Schneidern gar eine Traumatisierung sensibler Kinderseelen.
Struwwelpeter-Reime wurden zu Allgemeingut
Literaturwissenschaftler betonen indes gerne, dass so mancher Reim Hoffmanns zum Allgemeingut geworden ist: Sei es „Und die Mutter blickte stumm - Auf dem ganzen Tisch herum“ oder „Ich esse meine Suppe nicht! - Nein, meine Suppe esse ich nicht!“ oder auch „Die Sonne schien ihm aufs Gehirn - Da nahm er seinen Sonnenschirm“. Einige Psychologen sehen in dem Autor gar einen ersten Jugendpsychiater, der in den Geschichten Krankheitsbilder wie Essstörungen oder das Zappelphilipp-Syndrom beschrieb.
Als Arzt ließ sich Hoffmann seinerseits von seinen kleinen Patienten zum „Struwwelpeter“ inspirieren, wie er bekannte. Er habe die aufgewühlten Kinder beruhigt, die sich gegen das Fiebermessen und Abhorchen sträubten, indem er auf einem Notizzettel einen „kleinen Buben“ gezeichnet und erzählt hätte, wie der „Schlingel“ sich die Haare und Nägel nicht schneiden lassen wollte. Nach und nach habe er nun die Haarsträhnen und Nägelklauen der Figur immer länger gezeichnet, und konnte währenddessen das abgelenkte Kind untersuchen. Na, wenn das kein Happy End ist. (mz)