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Keimzeit-Sänger Norbert Leisegang im Interview Keimzeit-Sänger Norbert Leisegang im Interview: "Wir kämpfen immer um den Olymp"

15.08.2019, 08:53
Norbert Leisegang
Norbert Leisegang imago stock&people

Halle (Saale) - Die Band Keimzeit aus Brandenburg steht nicht unbedingt für politische, aber für emotional tiefgreifende Songs. Verströmte ihr erstes Album „Irrenhaus“ 1989 noch die Atmosphäre von Auflösung und Umbruch, blickt Frontmann Norbert Leisegang (58) auf dem aktuellen Werk „Das Schloss“ zurück auf seine früheste Kindheit und Jugend. Am 18. August stellt Keimzeit die Titel in der Festung Mark in Magdeburg vor. Konzertbeginn ist um 19 Uhr. Vorab sprach Olaf Neumann für die MZ mit Norbert Leisegang.

Herr Leisegang, ist die Platte „Das Schloss“ ein Wendepunkt im Oeuvre von Keimzeit oder eher „Business as usual“?
Norbert Leisegang: Es ist ein Stein im Gesamtwerk von Keimzeit. Wir nehmen seit 1989 Alben auf, das erste hieß „Irrenhaus“. Bestimmte Platten sind uns besser gelungen, andere etwas weniger. Aber letztendlich kämpfen wir immer um den Olymp. Bei „Das Schloss“ kam es uns auf Authentizität an. Es sollte zu hören sein, was wir gerade denken und fühlen. Ich bin 58 Jahre alt und es wäre fatal, wenn ich wirkte, als wäre ich 25 oder 30.

Sie haben ein Lied über Ihren Lieblingsakkord mit 14 auf der Gitarre geschrieben, e-Moll. Wer hat bei Ihnen das Rock-Fieber ausgelöst?
Leisegang: Meine Eltern kauften uns vier Geschwistern Instrumente. Ich habe anfangs Gitarrenunterricht bekommen und mir mit meiner Jugendmelancholie e-Moll als Lieblingsakkord auserkoren. Dass ich irgendwann die Rockmusik ins Herz schloss, liegt an den Beatles, den Rolling Stones und Tom Waits.

Hatten Sie auch ein Jugendidol in der DDR?
Leisegang: Ich bin zum Beispiel zu Engerling oder Monokel gegangen. Sehr attraktive Blues-Rock-Truppen, die an den Wochenenden oft in unserer Umgebung spielten.

Sie machen seit 39 Jahren mit Ihrem Bruder Hartmut Musik. Eine sehr enge Geschwisterbeziehung?
Leisegang: In der Tat. Am Anfang waren wir noch vier Geschwister in der Band. Später stießen Ulle Sende an der Gitarre und Matthias Opitz am Piano dazu. Geschwister sind zum einen miteinander verbunden, zum anderen grundverschieden. Irgendwann ist es nicht mehr abzuwenden, dass man auf Risse trifft und nicht mehr unbedingt zusammenarbeitet. Das Auseinandergehen ist schwieriger als der Beschluss, etwas zusammen zu machen. Mittlerweile sind mein Bruder Hartmut und ich übrig geblieben. Aber Andreas Sperling ist jetzt auch seit 25 Jahren in der Band.

Der Song „Actionkalle“ ist aus Ihren Beobachtungen während eines Klassentreffens entstanden. Was haben Sie dort erlebt?
Leisegang: Ich bin nicht unbedingt ein Fan von Klassentreffen, aber vor drei Jahren bin ich erstmalig auf einem gewesen. Einige hatten sich so verändert, dass ich sie nicht wiedererkannt habe. Zwei in diesem Reigen hatten es zu wissenschaftlichem Ruhm gebracht, was sie gar nicht so angaben. In der Schule waren die beiden sehr spröde und eigenartig. Niemand hätte geahnt, dass sie eine Karriere hinlegen würden. Das hat mich sehr beeindruckt.

Wie waren Sie mit 14?
Leisegang: Ich war ein kleiner, dünner, blonder und stiller Typ und gehörte immer zum Mittelmaß. Kaum zu sehen in dieser Zeit. Ich war nicht besonders pfiffig, aber ich lief ganz gut mit. Aufgeblüht bin ich erst in meinen 20ern. Nach der Schule musste ich erst noch den Soldaten mimen. Anschließend habe ich Mathematik und Physik studiert, aber ich merkte, dass ich singen und auf die Bühne will.

Ist Ihre Art zu schreiben noch immer geprägt durch Ihre DDR-Sozialisation?
Leisegang: Die kann man ja nicht abstreifen. Meine Sozialisation hängt zum großen Teil mit der Gegend zusammen, in der ich groß geworden bin: Ein 300-Seelen-Dorf namens Lütte unterhalb von Bad Belzig. Ich bin gut umhegt aufgewachsen in einer Familie mit drei Geschwistern. Ich hatte eine tolle Kindheit und Jugend, Sport und Kultur waren für mich wichtig.

Und wie sieht Ihre politisch-gesellschaftliche Prägung aus?
Leisegang: Ich war Jungpionier und später Mitglied der FdJ. Mit 18 wurde ich nach Golm in die Kaserne geschickt. Auch das hat mich geprägt, so dass ich schon antimilitaristisch eingestellt war. Danach war ich sogar noch mehr Pazifist.

Durften man in den Provinzgaststätten der DDR spielen, was man wollte?
Leisegang: Kontrolliert wurde das auch. Wir haben sogar selbst gesehen, dass im Publikum Leute von der Stasi waren. Einige IMs machten daraus gar keinen Hehl. Wir hatten nur wegen eines einzigen Songs Schwierigkeiten mit dem Kreiskulturamt bekommen. Darin ging es um die kritische Betrachtung von Kriegsspielzeug. Ansonsten hat man uns in den Gaststätten machen lassen. Wir waren auch nicht auf Krawall gebürstet. Wir wollten einfach hippiemäßig tolle Partys feiern.

Durften Sie den Song „Irrenhaus“ in der DDR öffentlich aufführen?
Leisegang: Schon Mitte der 80er waren die politischen Bandagen auf dem Land nicht mehr so straff. Ende der 70er gab es viel strengere Vorgaben. Tanz- und Unterhaltungsmusiker hatten zum Beispiel keine langen Haare zu tragen. Songs wie „Irrenhaus“, „Hofnarr“ oder „Ratten“ hätte man natürlich als gesellschaftsfeindlich auslegen können, aber das hat man Mitte der 80er in unserem Fall nicht mehr getan.

Haben Sie Ihre Stasi-Akten eingesehen?
Leisegang: Ich habe es bislang nicht getan. Einige IMs um mich herum kannte ich persönlich. Was auch immer die ausplauderten, war mir irgendwie egal. Ich hatte bisher noch keine große Motivation, mir meine Akten anzuschauen. Man muss sich dann ja auch damit beschäftigen. Vielleicht mache ich das, wenn ich mal Zeit habe.

Die Musik, die sich heutzutage in den Charts tummelt, klingt größtenteils sehr angepasst. Gab es in der DDR viele rebellische Künstler oder waren alle angepasst?
Leisegang: Was ist angepasst? Ich selber bin sehr angepasst, was zum Beispiel das Ästhetische betrifft. Ich höre mir Platten von Bon Iver an und versuche, viel zu imitieren. Aber Sie meinen wahrscheinlich gesellschaftliche oder politische Anpassung. In den 80ern gab es in der DDR zwei Kategorien: einerseits junge aufmüpfige und eigenständige Bands wie die Skeptiker, Sandow, Dekadent und Die Art. Die waren eigenständig und staatlich unbeeinflusst. Und es gab die große Riege: Silly, City, Puhdys, Karat. Die mussten sich schon in den 70ern mit dem Staat rumschlagen. Sie hatten ihre Schubladen gefunden und durften hin und wieder ins nicht sozialistische Ausland reisen. Junge Bands meinten, die Älteren hätten sich beim Staat eingeschleimt und seien angepasst. Aber mit dem Angepasstsein bin ich vorsichtig.

Wieso?
Leisegang: Ich merke, dass Musiker grundsätzlich angepasst sind. Sie richten sich zu 99,9 Prozent nach den Honoraren, die sie bekommen. Künstler kann man locker bestechen. Weil wir unseren Kühlschrank füllen müssen. Und wenn es da eng wird, rückt man schnell von seinen Idealen ab.

Welches sind Ihre Ideale?
Leisegang: Meine Ideale sind, dass ich frei schreiben und tun kann, was ich will. Wenn ich allerdings merke, ich muss aus der Wohnung raus, weil ich die Miete nicht mehr auftreiben kann, spiele ich auch schon mal für eine Firma. Ich hatte jüngst ein Angebot von einer deutschen Lebensmittelfirma. Ich sollte „Kling Klang“ für einen Werbejingle noch einmal einsingen. Statt Erdnusschips sollte ich Erdnussflips singen, weil das ihr Produkt ist. Und dafür wollten sie mich mit Geld bewerfen. Wäre ich mau gewesen, hätte ich vielleicht zugesagt. Aber grundsätzlich sieht man viele Musiker, Künstler oder Sportler in der Werbung. Angepasster als heutzutage war kaum ein Künstler in seiner Zeit.

Karten für das Konzert bei TiM Ticket: 0345/565 56 00