Jürgen Leinemann berichtet über «Ernstfall Leben»
Berlin/dpa. - Rund 40 Jahre lang war Jürgen Leinemann als Journalist im «Dunstkreis der Macht» unterwegs. Jetzt hat der 72-Jährige ein Buch über seinen Reporterberuf und seine Krebserkrankung geschrieben, die den Journalismus als «Lebensschule» abgelöst hat.
Dabei wusste so einer wie Jürgen Leinemann, einer der profiliertesten und bekanntesten Verfasser von Politikerporträts, Reportagen und Essays («Höhenrausch»), zunächst gar nicht, wie er zu seinem Glück im Leben mit den beruflichen Erfolgen gekommen war («Es war eine Ehre, von ihm beobachtet zu werden», meinten manche der Porträtierten später). «Es ist ja auch ziemlich lange gut gegangen», mal abgesehen von den «Gefahren in diesem Beruf, der eigenen Wichtigtuerei aufzusitzen und die abgeleitete Bedeutung als Berichterstatter mit persönlichen Verdiensten zu verwechseln», wie er rückblickend sagt.
Der langjährige «Spiegel»-Redakteur, der in den 60er Jahren als Volontär bei der Deutschen Presse-Agentur am Berliner Savignyplatz angefangen hatte und später für die dpa auch nach Washington ging, notiert diese Sätze in seinem Buch «Das Leben ist der Ernstfall» (Hoffmann und Campe). Leinemann nahm den Schock der schweren Erkrankung zum Anlass, «einen prüfenden Blick auf mein ganzes Leben zu werfen», etwas anders, als der über 20 Jahre jüngere Regisseur Christoph Schlingensief in seinem «Tagebuch einer Krebserkrankung», auch wenn sich manche Selbstbefragungen und - zweifel durchaus ähneln. Seltsamerweise wirken einige Passagen bei dem Journalisten Leinemann etwas theatralischer als beim Theaterregisseur Schlingensief («Ich mag den Tod im Hals haben, aber in die Knie hat er mich noch nicht gezwungen», schreibt Leinemann über seinen Zungengrundkrebs).
Davon mal abgesehen, legt Leinemann einen tief berührenden Bericht eines Überlebenskampfes vor, der unter die Haut geht, bis hin zu allen Einzelheiten seiner zahlreichen Krankenhausaufenthalte und Pflegestationen mit den unterschiedlichsten Erfahrungen. In dieser Detailliertheit ist Leinemanns Buch manchmal kaum zu ertragen.
Leinemann schildert ein Leben, in dem das Schlucken kaum noch möglich ist, für «Außenstehende» unfassbare, kaum nachvollziehbare Erlebnisse. «So trat eines Tages ein junger, smarter Doktor in mein Zimmer, um mir mit lässiger Beiläufigkeit zu erklären, dass es mit meiner Lebenserwartung ja ohnehin nicht mehr weit her sei und sich besonderer medizinischer Aufwand deshalb nicht mehr lohne. Natürlich drückte er sich anders aus.» Leinemann ängstigte ein «blutleeres medizinisches System», das er zu spüren bekam. Es gab aber auch verständnisvolle und sensible Beratung und Hilfe.
Kaum merklich «wucherte» im einstigen Starjournalisten noch ein ganz anderer «Krebs», nämlich die Angst, «dass ich als Pressemensch erledigt war - wer fragte schon noch nach mir?» Und da war noch eine andere, heraufdämmernde Befürchtung des Ehemannes und Familienvaters: War der Kreis der Journalisten seine wahre «Familie» gewesen? «War es ein Zufall, dass an meinem 70. Geburtstag unter 120 Menschen nur ein Vetter und eine Cousine nebst Ehepartner an der Festtafel saßen?» Von seiner Frau muss er sich sagen lassen: «Da bist du und dein Beruf, und dahinter tritt alles andere zurück.»
Nach der Krebsdiagnose 2007 nahm Leinemann aktuelle Nachrichten in Zeitungen und im Fernsehen zwar noch zur Kenntnis, «aber im Grunde interessierten sie mich nicht, sie waren Anstoß für düstere Reflexionen über mein Leben». Zum Beispiel über seine frühere Alkoholabhängigkeit und seinen Zusammenbruch in Washington. Lange habe er sich auch «als Marionette des Alkohols und als Hampelmann meiner Umwelt» gefühlt, bis das Leben plötzlich nach der Tumorerkrankung «auseinander driftete».
Auch wenn er sich schon seine eigene Grabstätte nahe dem Berliner Olympiastadion ausgesucht hat («da kann ich sonnabends die Hertha-Fans brüllen hören»), gibt es «immer noch Augenblicke des Aufbegehrens» und «in guten Augenblicken kann ich sogar über mich lächeln», notiert Leinemann am Ende des Buches. Ein Buch nicht nur über eine Krebserkrankung sondern auch über ein reichhaltiges, ausgefülltes Leben, in dem aber manches oft wohl auch zu ernst genommen und anderes, wichtigeres, übersehen wurde.
Jürgen Leinemann
Das Leben ist der Ernstfall
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
240 Seiten, Euro 20,00
ISBN 978-345-5501223