Juden in Russland Juden in Russland: Solschenizyn will Ring der Vorwürfe aufbrechen
Moskau/dpa. - Solschenizyn predigt den Juden Buße für die russische Revolution Von Friedemann Kohler, dpa = Moskau (dpa) - Der russische Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn (84) hat in seinem absehbar letzten großen Werk das heikle Thema der Juden in Russland aufgegriffen. «Die Wahrheit über unsere gemeinsame Vergangenheit zu erfahren ist für Juden wie für Russen moralisch wichtig,» schreibt er in «Zweihundert Jahre gemeinsam». Zum Jahreswechsel erschien der abschließende zweite Band über die Rolle der Juden in der Sowjetunion. Der nationalkonservative Denker Solschenizyn gibt ihnen darin eine Mitschuld an der Katastrophe Russlands im Kommunismus. Doch der Autor, der als orthodox-christliches Gewissen seines Landes gilt, verheddert sich in der Moral seiner Bußpredigt und läuft Gefahr, dem Antisemitismus Vorschub zu leisten. Wie schon beim ersten Band, der die Jahre im Zarenreich von 1795 bis 1916 behandelte, sind die Reaktionen in Moskau gespalten. Viele Russen wie auch viele der etwa eine Million Juden im Land lässt Solschenizyn mit seinem tausendseitigen Denkanstoß gleichgültig. Solschenizyn erzählt im zweiten Band vom Aufstieg, Abstieg und Ausstieg der sowjetischen Juden. Erst durch den Sturz des Zaren in der Februarrevolution 1917 erhielt die unterdrückte Minderheit der Juden in Russland die vollen Bürgerrechte. Bei den Bolschewisten, die in der Oktoberrevolution die Macht ergriffen, spielten jüdische Revolutionäre eine wichtige Rolle. Solschenizyn listet nicht nur bekannte Spitzenfunktionäre und «abtrünnige Juden» wie Trotzki, Kamenjew und Sinowjew auf. Er schreibt von einer breiten Masse von Juden, die das Sowjetsystem aufbauen half und im «Roten Terror» Gewalt ausübte. Späte Rache für die Pogrome von 1905? Juden seien in der russischen Revolution nicht nur Amboss, sondern auch Hammer gewesen - «mit einem beträchtlichen Anteil an seiner Masse», folgert Solschenizyn. Der Abstieg begann in den Säuberungen des Sowjetdiktators Josef Stalin, die zunächst die altgedienten Revolutionäre, darunter viele Juden, trafen. Bis in die 1960er Jahre folgten mehr oder weniger offen antisemitische Kampagnen gegen die «Kosmopoliten», gegen die «jüdischen Ärzte», gegen die «Diebe am sozialistischen Eigentum». Der jüdische Massenexodus nach Israel und in die USA markiert für Solschenizyn das Ende der besonderen Geschichte zwischen Russen und Juden. Die meisten dieser Tatsachen sind nicht neu. «Zweihundert Jahre gemeinsam» ist auch keine Geschichtsschreibung, wie der Autor meint. Dazu ist der Umgang mit den Quellen zu wahllos. Das neue Werk ähnelt eher Solschenizyns Klassiker «Der Archipel Gulag», der erschütternden Dokumentation über die sowjetischen Straflager. Es ist erneut der «Versuch einer literarischen Bewältigung», ein langer, faktenreicher Essay, verfasst in einem bitter-ironischen Klageton. Solschenizyn hat spürbare Sorgfalt auf die Sprache des zweiten Bandes verwandt. Doch während der «Archipel Gulag» in der Trauer um Millionen unschuldiger Opfer eine klare und unanfechtbare Moral hat, entwertet hier die voreingenommen russisch-nationale Geschichtssicht die moralische Schlussfolgerung. Solschenizyns Grundthese: Als die verblendeten Russen alles zerstörten, was ihnen heilig war - Gott, Zar und Vaterland, da gingen ihnen die heimatlosen Juden zur Hand, denen das Heilige Russland nichts bedeuten konnte. Auf dieser fragwürdigen Grundlage errichtet Solschenizyn den gedanklichen Bau von Mitschuld und Sühne. «Die Verantwortung müssen wir, Brüder und Fremde, teilen». Deshalb fordere er unablässig die Russen zur Buße auf. «Dazu rufe ich auch die Juden auf.» Unbestreitbar öffnet das Eingeständnis von Fehlern bei einzelnen Menschen wie bei Völkern den Weg zu einer Verständigung. Nur leider erklingt der Ruf zur Sühne für die historischen Sünden der Russen leiser als der Aufruf an die Juden. Solschenizyn gehört zu sehr zur russischen Seite, um für die jüdische Seite predigen zu können. Der erstee Band der Darstellung «Zweihundert Jahre gemeinsam. Die russisch-jüdische Geschichte 1795-1916» ist im letzten Jahr im Herbig Verlag (München) in deutscher Übersetzung herausgekommen, der zweite Teil soll im Herbst erscheinen.