Jubiläum Jubiläum: Spüldienst war gestern
Halle/MZ. - Wandern sollten die jungen Leute, höchstens noch mit dem Fahrrad oder Boot unterwegs sein. Man kann sich das bange Gesicht des jungen Mannes vorstellen, dessen Jacke keinen Zweifel zuließ: Kleinlaut gab er zu, dass er mit dem Motorrad angereist war. Empört schmiss ihn der Herbergsvater aus dem Haus. Und auch die Besucherin, die diese Szene mitbekommen hatte, musste gehen. Sie war mit ihrer Freundin per Anhalter angekommen - der Herbergsvater hatte sie aus einem Auto steigen sehen.
Keine Frage, die Sitten waren einst streng in den Jugendherbergen: Penibel wurde darauf geachtet, dass die Hausordnung eingehalten wird ("Licht aus um 22 Uhr!"), an den Wänden hingen Merksprüche zum korrekten Falten der Bettdecken und jeder Gast wurde einmal zum Ausfegen der Zimmer oder für den Spüldienst eingeteilt, erinnern sich ehemalige Besucher in dem Jubiläumsbuch "100 Jahre Jugendherbergen". Denn der Erfinder dieser günstigen Unterkünfte, Richard Schirrmann (siehe "Eine Gewitternacht . . ."), hatte nicht das Vergnügen der jungen Leute im Sinn, als ihm im Sommer 1909 die Idee für die Jugendherbergen kam: Der Volksschullehrer aus dem Sauerland wollte sie fürs Wandern und die Natur begeistern und ihnen ein Gemeinschaftsgefühl vermitteln.
Eine Idee, die sich inzwischen in der ganzen Welt herumgesprochen hat: Heute gibt es in 80 Ländern mehr als 4 000 Jugendherbergen. In Deutschland sind es 548. Hier hat die Mitgliederzahl unlängst erstmals die Zwei-Millionen-Marke überschritten, jährlich verzeichnet das DJH in den 75 000 Betten mehr als zehn Millionen Übernachtungen. Eine Erfolgsgeschichte, an der offenbar auch die Konkurrenz interessiert ist: Nach der Klage eines Wettbewerbers hat das Bundespatentgericht Anfang des Jahres entschieden, dass der Begriff "Jugendherberge" aus dem Marken-Register zu löschen sei. Der Verband hat Widerspruch eingelegt.
Die ursprünglichen Ziele des Gründungsvaters verfolge man noch immer, sagt DJH-Sprecher Knut Dinter - dies zeige sich schon im gemeinsamen Motto der Jugendherbergen: Gemeinschaft erleben. "Das unterscheidet uns von anderen Unterkünften." Die Häuser seien so angelegt, dass die Menschen dort schnell ins Gespräch kommen können. Das etwas angestaubte Image der Herbergen will man loswerden: Zum Spüldienst muss längst niemand mehr antreten und auch die Sache mit der Nachtruhe wird entspannter gesehen. "Die Ansprüche und Reisegewohnheiten haben sich deutlich gewandelt", sagt Knut Dinter. Darauf stellen sich die Herbergen ein: Kratzende Wolldecken, riesige Schlafsäle und Duschen im Keller gehören der Vergangenheit an. Zwar wird es in naher Zukunft sicher keine Fernseher oder Minibars in den Zimmern geben, doch mitunter muten die Unterkünfte trotzdem wie Hotels an.
Wie im sächsischen Colditz, wo vor zwei Jahren in einem Schloss eine neue Jugendherberge eröffnet wurde. Im Zweiten Weltkrieg befand sich hier ein legendäres Gefangenenlager für hochrangige alliierte Offiziere (unter anderem Churchills Neffe), weshalb heute viele Gäste aus dem Ausland anreisen. Im Eingangsbereich sitzen ein paar Jungs aus Ulm mit ihren Laptops und nutzen die drahtlose Internetverbindung, die es dort gibt. "In den Pausen wird bei uns pausenlos gezockt", sagt Sebastian Maurer. Klar, die Schüler auf Klassenfahrt stammen aus einem Informatik-Kurs an einem technischen Gymnasium. "Man hat sich hier der modernen Zeit angepasst", sagt der 17-jährige Julian Schregle über die Herberge, in der es neben den obligatorischen Tischtennis- und Diskoräumen auch Tagungssäle mit Beamer und Flipchart sowie einen Multimediabereich gibt.
Ebenfalls an die neuen Ansprüche angepasst: Die Toiletten befinden sich nicht auf dem Gang, sondern in den Zimmern. "Das ist heute notwendiger Standard", sagt Stefan Steinbach, der seit fast zwanzig Jahren für das Jugendherbergswerk arbeitet. Immer häufiger werde er jetzt nach Einzel- und Doppelzimmern gefragt - was sicher auch daran liegt, dass der größte Anteil seiner Gäste Tagungsteilnehmer seien. Und: "Statt nur der Unterbringung und Verpflegung erwarten die Leute zunehmend einen Rundum-Service - vom Transfer bis hin zu Programmangeboten."
Der Service sei ohnehin stark gewachsen, sagt der Herbergsleiter. Beweis dafür sind Beispiele wie dieses: Nein, in seiner Herberge gebe es nicht mehr die typischen Edelstahlkannen mit Früchtetee, an die sich heute noch viele wie an den Geruch von Bohnerwachs oder Übernachtungspreise von 25 Pfennigen erinnern. "Aber wenn das gewünscht ist, können wir den Tee auch in Kannen anbieten." Dass es sich hier um eine Jugendherberge handelt, spürt der Besucher bei genauerem Hinsehen aber doch: Es gibt fast nur Doppelstockbetten, meist in Vier- und Sechs-Bett-Zimmern, eine Sperrstunde um 23 Uhr und man bezieht sein Bett selbst.
Zwar sind laut DJH heute noch rund 85 Prozent der Gäste im jugendlichen Alter bis 26 Jahre, doch längst hat man sich auf neue Besuchergruppen eingestellt, "um Rückgänge bei den Übernachtungen von Schulklassen zu kompensieren", wie Knut Dinter sagt. Diese haben heute eine größere Auswahl an günstigen Unterkünften und reisen auch öfter ins Ausland als früher. Neu entdeckte Zielgruppen sind neben den Tagungsgästen auch Familien. Jugendliche bekommen trotzdem weiterhin bevorzugt einen Schlafplatz und zahlen weniger für die Übernachtung. "In bayerischen Jugendherbergen durften erwachsene Einzelreisende bis vor fünf Jahren gar nicht übernachten", erzählt der DJH-Sprecher.
Jürgen Reulecke, Barbara Stambolis (Hrsg.), "100 Jahre Jugendherbergen. 1909-2009", Klartext Verlag, 24,90 Euro