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John-Cage-Projekt in Halberstadt John-Cage-Projekt in Halberstadt: Orgelkonzert für Geduldige

Von Antonie Städter 03.07.2008, 18:38

Halberstadt/MZ. - "Hier wird nicht gehetzt", sagt Gästebetreuerin Margot Dannenberg, als zwei Besucher aus Hannover kurz vor Ende der Öffnungszeit in die Burchardi-Klosterkirche in Halberstadt möchten - "wir haben ja noch 632 Jahre Zeit". Ein Scherz. Doch die Macher des John-Cage-Orgelkunstprojektes meinen es ernst mit ihrem Vorhaben, das Stück "Organ² / ASLSP" des 1992 gestorbenen US-amerikanischen Komponisten über 639 Jahre nonstop in der Kirche zu spielen. Schließlich hatte Cage selbst die Tempoanweisung "as slow as possible" gegeben - so langsam wie möglich. "Cage fände das Projekt klasse", glaubt Rainer O. Neugebauer, stellvertretender Vorsitzender des Kuratoriums.

Wind macht die Musik

Tag und Nacht dringt - ganz leise - seit dem letzten Klangwechsel vor mehr als zwei Jahren der immer gleiche Ton aus dem ehemaligen Zisterzienserkloster. Der Wind, der nötig ist, um die Orgel in Gang zu setzen, wird über einen Stromgenerator erzeugt. Es klingt, als sei irgendwo in der Ferne ein monoton-dumpfer Alarm ausgelöst worden. Im Inneren des alten Gemäuers, wo Gülleabflussrillen von seiner letzten Funktion als Schweinestall zeugen, sind keine Stuhlreihen, ist kein Verkaufsstand - nur das Instrument und dieser unaufhörliche, nun unüberhörbare Ton.

"Das hat mit Wohlklang nichts zu tun", sagt selbst Hans Jörg Bauer vom Vorstand der John-Cage-Orgel-Stiftung. "Aber man pfeift Stücke von Cage nun mal nicht unter der Dusche mit." Für den experimentellen Komponisten waren alle Klänge gleichberechtigt - jene eines klassischen Konzertes genauso wie die einer quietschenden Straßenbahn. Die Anwohner in der Nähe der Kirche sind zwar verständnisvoll - immerzu vom Cage-"Konzert" beschallt zu werden, wäre aber selbst für die Tolerantesten zu viel. Deshalb trägt das mit wenigen Pfeifen ausgestattete, noch unfertige Instrument, aus dem einmal eine John-Cage-Orgel werden soll, eine Plastik-Haube - als Lärmschutz gewissermaßen. "Wir haben kein Geld für Schallschutzfenster", sagt Neugebauer. Er ist sich sicher: "Für 90 Prozent der Halberstädter ist das Projekt einfach nur gaga."

Nur zu besonderen Anlässen wird die Haube entfernt. Zum Beispiel am Samstag: Partiturgemäß steht der nächste Klangwechsel an. Das hat Neugebauer, eigentlich Sozialwissenschaftler, aufs Genaueste ausgerechnet. Um 15.33 Uhr kommen ein C und ein As hinzu. Einer der wenigen hektischen Momente inmitten des für manche fast schon meditativen Dauertons: Dann werden wieder Cage-Fans aus aller Welt anreisen, um dabei zu sein, wenn der neue Ton von Staatsminister Rainer Robra (CDU) und Halberstadts Oberbürgermeister Andreas Henke (Linke) freigegeben wird. Danach wird es zu Ehren des Komponisten mehrere Orgelkonzerte in den Kirchen der Stadt geben. Höhepunkt soll eine Glockenperformance des Komponisten Ewald Liska werden, die am Abend auf dem Domplatz erklingt.

Im kargen Innenraum der Burchardi-Klosterkirche hängen Metallschilder an den Wänden. Darauf stehen je eine Jahreszahl, Verse und Namen. Ein solches Schild wird angebracht, wenn sich ein Fan für 1 000 Euro ein Klangjahr gekauft hat - neben Spenden im klassischen Sinne die Haupteinnahmequelle der John-Cage-Orgel-Stiftung. 85 der 639 Klangjahre sind bereits verkauft.

Nacht mit dem Ton

Jedes Jahr kommen bis zu 10 000 Besucher, um das Cage-Stück, dessen Uraufführung noch nicht einmal 30 Minuten dauerte, in Langversion zu erleben, sagt Hans Jörg Bauer. "Viele sind einfach neugierig oder möchten sich Gedanken zum Thema Zeit machen", hat Gästeführerin Margot Dannenberg beobachtet. Oder sie sind Cage-Fans wie Ulrike Flaig. "Ich finde das absolut exzellent, dass seine Idee hier weitergeführt wird", so die Künstlerin aus Berlin. Dannenberg erzählt, einmal habe sie ein Harvard-Student sogar angefleht, in der Kirche übernachten zu dürfen. "Da habe ich ihm eine Matratze besorgt."

Neugebauer hat einen Traum: "Dass die Leute das Stück irgendwann noch verlängern." Man könnte ja auf die Idee kommen, zu sagen: 639 Jahre, das reicht nicht. Sei es drum: "Dieses Jahr ist Hektik", sagt er, "am 5. November steht der nächste Klangwechsel an."

Führungen: dienstags bis sonntags von 11 bis 17 Uhr