"Johannistrieb. Eine Telenovelle" von Paul Gratzik "Johannistrieb. Eine Telenovelle" von Paul Gratzik: Wolf trifft Rotkäppchen
Halle (Saale) - Was für ein sonderbares, erstaunliches Buch! „Johannistrieb“ hat Paul Gratzik das Bändchen genannt und das Thema damit eindeutig umrissen: Denn unter dem Begriff versteht man einerseits und hauptsächlich zwar den zweiten Blattaustrieb innerhalb eines Jahres, den man an einigen Laubbäumen beobachten kann. Aber zugleich wird Johannistrieb auch als poetisches Synonym für die gesteigerte sexuelle Lust verwendet, die ältere Menschen beiderlei Geschlechts in Unruhe versetzen kann.
Und mit dieser haben wir es hier zu tun, „eine Telenovelle“ nennt Gratzik seine Erzählung voller Ironie, die Anspielung auf die Telenovelas im Fernsehen ist natürlich eine Distanzierung: Denn dort wird Erotik zumeist eher behauptet. Gratzik indes, 79 Jahre alt, geht mit seinem Text in die Vollen der Leiblichkeit, seiner und der jener Frau, die er nach Jahren wiedergetroffen und endlich erkannt hat. Rotkäppchen und der Wolf, so werden sich beide nun nennen, das Rotkäppchen steigt auf den alten, grauen Wolf, der sich vor ihm auf den Rücken geworfen hat, von „Backenbergen“ ist bald die Rede, von „heißem Bauchfell“ und einer „lachsroten Rute“. Das alles wird in passend praller, expressiver Sprache geschildert, gleichwohl schrammen der „quellende Nektar“ und das „zuckende Fleisch“ unvermeidlich dicht an der Peinlichkeit. Aber das mag mancher anders empfinden und hingerissen sein vom unverschämt sinnlichen Rausch, in den der Autor seine Protagonisten wie seine Leser stürzt, die er zu Zeugen seiner Lustbekenntnisse macht. Die sind, so heißt es, „inspiriert und gezeichnet von Emma Korolewa“. Womit dem Buch ein Übriges an hitziger Würze hinzu gegeben ist. Natürlich ist es legitim, die Sexualität älterer Menschen zum Gegenstand der Literatur zu erheben, das Begehren wie das Lieben hören niemals auf, so hofft man wenigstens - nicht zuletzt auch für die Jüngeren.
Explosive, kräftige Sprache
Man wird Gratziks Buch allerdings auch an früheren messen, „Transportpaule“ und vor allem „Kohlenkutte“ sind da zu nennen, beides Texte in einer explosiven, kräftigen Sprache, die singulär war für den Literaturbetrieb der DDR. Dieser Autor war in jeder Hinsicht zuviel für das biedere Land - nur in einer nicht: Jahrelang hat Gratzik die Stasi über seine Freunde und auch über die Geliebte unterrichtet, der Dokumentarfilm „Vaterlandsverräter“ erzählt davon.
Gratzik zeigt sich darin voller Angriffslust und Selbstmitleid, ein Autor von Rang, der menschlich versagt hat. Nun hockt er fern der Welt in der Uckermark und gefällt sich als einsamer Wolf. Die fantastischen Freuden mit einem Rotkäppchen passenden Alters mögen da eine hübsche Abwechslung sein. Und ein Lebenszeichen: Gratzik schreibt noch. Immerhin. (mz)