Johann Friedrich Reichardt Johann Friedrich Reichardt: Viel Herz und Feuer

Halle/MZ. - Man schreibt das Jahr 1775. Der füllige Kompositeur und legendäre Biertrinker Agricola ist verblichen, die Stelle des preußischen Hofkapellmeisters vakant. Dem musizierenden König sind all die Kandidaten für das mit jährlich 1200Talern dotierte Amt "weder Graun- noch Hassisch" genug.
Da bewirbt sich Johann Friedrich Reichardt, ein erst 23jähriger Musikus um die Position. Im Dezember empfängt ihn Friedrich II. zur diskutablen Privataudienz - in voller Montur samt Dreispitz auf dem Sofa liegend, die königlichen Windspiele im schwachen Kerzenlicht nur mit Mühe subordinierend.
Der spätere Wahl-Hallenser wird engagiert, bis seine mehr oder minder offenen Sympathien für französische Revolutionäre und preußische Reformer 1794 zur ungnädigen Verabschiedung führen. Reichardts ausgeprägtem Mitteilungsbedürfnis verdanken wir indes nicht allein die höchst amüsante Schilderung eben jenes bizarren Potsdamer Einstellungsgesprächs. Aus der flinken Feder des heute vor 250 Jahren geborenen Königsberger Stadtmusikantensohnes stammen ebenso singuläre schriftliche Zeugnisse, als er penibel notierte, wie Carl Philipp Emanuel Bach in Hamburg improvisiert oder der große Friedrich in Sanssouci flötet: das Adagio "vollkommen gut", das Allegro aber "ohne Feuer".
Dabei waren derart authentische Darstellungen musikalischer Ereignisse damals so selten wie praktizierende Musiker, die sich zugleich als kritische Publizisten betätigen mochten. Womöglich hat das Misstrauen gegenüber solchen Doppelbegabungen mit dafür gesorgt, dass die literarische Kunstfertigkeit des wegen seiner freimütigen, aufgeklärten Haltung ohnehin nicht sonderlich beliebten Zeitgenossen recht schnell in Vergessenheit geriet, während sein reiches kompositorisches Werk bis auf das sensible Liedschaffen schlicht unterschätzt wurde.
Reichardt, den ausgespähte Objekte seiner freilich subjektiven Kritik bisweilen böswillig zum "Spitz von Giebichenstein" degradierten, war ein ausgemacht umtriebiges, auch geselliges Temperament, ungewöhnlich vielseitig und rhetorisch talentiert als Reiseschriftsteller, Librettist, Redakteur, Herausgeber, Autobiograf sowie streitbarer Verfasser (kultur)politischer Schriften und mannigfacher "Vertrauter Briefe". Sie ganz bewusst auf den gesuchten Leser-Dialog - getreu dem Reichardt-Motto: "Allein gefühlte Freuden sind nur halbe".
Reichardt vertonte neben seiner passionierten Vielschreiberei immerhin vier bis fünf Opern nach Gluck-Manier, sieben Sinfonien, 14Klavierkonzerte, elf Violinsonaten, ferner Singspiele, Schauspielmusiken und nicht zuletzt etwa 1000 Solo- oder Chorlieder in 30Sammlungen, die den empfindsamen, volkstümlichen Melodiker als Vorläufer seiner berühmten Kollegen Schubert und Wolf erscheinen lassen. Doch Reichardt, dem Musenfreund Goethe trotz diverser Konflikte das honorige Prädikat eines "denkenden Künstlers" verlieh, hat sich durch seine sprunghafte, zuweilen undiplomatische Art auch mancherlei Probleme eingehandelt.
Zum Herbst 1794 wird der "fatale Reichart" (König Friedrich Wilhelm II.) wohl auf Grund einer üblen Denunzierung wegen seines angeblich "bekannten Betragens" per "Cabinettsordre" fristlos und ohne Pension aus preußischen Kapellmeister-Diensten entlassen. Der erhoffte Neuanfang am Kasseler Hof bleibt eine kurze Episode.
So zieht sich der einsame Unruhegeist auf das bereits 1791 gepachtete Landgut in Giebichenstein bei Halle zurück, sein "liebes Giebeon" hoch über der "lustig bebauten" Saale-Landschaft, diese oft zitierte, obgleich 1806 von französischen Truppen geplünderte Romantiker-Herberge, wo er rekultiviert, gärtnert, schreibt, sich häufig mit namhaften Gesinnungsgenossen trifft. Und am 27. Juni 1814 endet hier das wechselvolle Leben des Johann Friedrich Reichardt, bestattet auf dem nahen Friedhof der St. Bartholomäuskirche. 1817 wird sein Nachlass versteigert, darunter 2607 Bücher und 569 Musikalien. Aber vergessen ist er nicht mehr.