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Interview Interview: «Tucholsky hatte seinen Tod gewollt»

20.12.2005, 18:51

Rheinsberg/MZ. - Herr Böthig, heute vor 70 Jahren starb Kurt Tucholsky im Alter von 45 Jahren. War es Selbstmord?

Peter Böthig: Das ist bis heute nicht hundertprozentig geklärt. Man kann sich aber darauf einigen, dass es ein gewollter Tod war. Er hat kurz zuvor sein Testament geändert, Abschiedsbriefe geschrieben und sein Politisches Testament an Arnold Zweig geschickt. Ob er nun tatsächlich an diesem Abend vorhatte, sich umzubringen, oder ob es nicht doch eine Komponente von Unfall gab, das wird sich nicht mehr aufklären lassen.

Der Biograf Michael Hepp bringt die Möglichkeit ins Spiel, es könnte ein Selbstmord "aus Versehen" gewesen sein. Er spricht von "Tablettenautomatismus".

Böthig: Das ist die Antwort, auf die man sich einigen kann. Es gab ja auch Spekulationen, dass es Mord gewesen sein könnte.

Politischer Mord?

Böthig: Es ist nachweisbar, dass die Gestapo wusste, wo Tucholsky steckte. Dabei hat er intensiv versucht, das zu verheimlichen. Er hat seine gesamte Post über eine Deckadresse in der Schweiz abgewickelt. Aber sie wussten bescheid. Er stand ganz oben auf der Liste derer, die sie gern beseitigt hätten.

Was überwog bei Tucholskys Freitod: das existenzielle, physische oder politische Motiv?

Böthig: Das existenzielle Motiv wird den Ausschlag gegeben haben. Aber er war auch krank, hat sehr gelitten. Hinzu kam, dass seine ökonomische Situation immer aussichtsloser wurde. Seine Konten waren gesperrt, er hatte keine Einnahmen mehr. Tucholsky hatte sich auch ganz bewusst nicht in den Exil-Kreisen integriert, nichts mehr veröffentlicht. Die politische Verzweiflung darf man nicht unterschätzen. Die Jahre 1933 bis 1935 waren Erfolgsjahre für die Nazis, sie hatten keine Gegner in Europa. Tucholsky sah sehr deutlich, dass seine Epoche vorbei war.

Was war dieser Tucholsky eigentlich für ein Mensch?

Böthig: Eine Künstlernatur. Hochsensibel, hochbegabt. Zugleich ein Mann, der ein sehr starkes soziales Engagement besaß. Den interessierten tatsächlich die Menschen. Er wollte verstanden und gelesen werden. Er wollte wirken.

Wo stand er politisch?

Böthig: Er gehörte zu der ganz kleinen Gruppe von Intellektuellen, die an die Möglichkeit einer Demokratie und einer Republik glaubten - und die dafür auch bereit waren zu kämpfen. Mit aller Kraft, allem Geist und allem Esprit.

Obwohl regelmäßig der Vorwurf auftaucht, Tucholsky hätte der Weimarer Republik mehr zuarbeiten statt sie kritisieren sollen.

Böthig: Ja, dieses Argument gibt es immer wieder. Es ist aber eine infame Verkehrung der Tatsachen.

Die DDR tat sich schwer mit Tucholsky. Warum?

Böthig: Weil er ein Skeptiker war, der selbstverständlich auch das Allerheiligste, den Marxismus, kritisierte. Er ließ sich für keine Partei oder Gruppe vereinnahmen. Er vertraute auf seine Urteilskraft.

In Israel wurde er über 45 Jahre nicht verlegt.

Böthig: Das hat mit seiner bitteren und drastischen Anklage gegen die Juden zu tun, denen er vom Exil her vorwirft, dass sie aus Feigheit und Opportunismus 1933 keinen Widerstand geleistet hätten und nicht in Massen ausgewandert sind.

Welche Fragen treibt die Tucholsky-Forschung heute um?

Böthig: Die Frage seiner äußerst komplizierten Beziehung zum Judentum. Kürzlich gab es eine Tagung zum Thema "Tucholsky und die Medien". Er war ja auch Musikkritiker, hat Schallplatten rezensiert, über den Film geschrieben. Man versucht, ihn in der Publizistik der Weimarer Zeit zu verorten.

Welches Buch würden Sie Tucholsky-Einsteigern empfehlen?

Böthig: Ein Buch, das ich sehr mag, ist das 1927 veröffentlichte "Pyrenäenbuch". Das ist ein Reisebuch in der Tradition von Heine, ein sehr schöner Essay über Frankreich und eine sehr ernste Auseinandersetzung mit dem Katholizismus, der Heiligenverehrung und dem Wunderglauben. Aber auch eine wunderbare Lektüre.

Welchen Tucholsky vermissen Sie in der Gegenwart?

Böthig: Den zupackenden Satiriker, der Probleme tatsächlich so zuspitzt, dass es wehtut. Davon gibt es zu wenige. Wiglaf Droste wäre da zu nennen. Aber wahrscheinlich fehlt heute für diese Art von Literatur die geistige Kultur.