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Interview mit Kafka-Biograf Reiner Stach Interview mit Kafka-Biograf Reiner Stach: «Er konnte nie lockerlassen»

25.06.2008, 08:34
Der Literaturwissenschaftler und Autor Reiner Stach. Vor sechs Jahren erschien der erste Band seiner Kafka-Biografie, in Kürze folgt der zweite. (Foto: dpa)
Der Literaturwissenschaftler und Autor Reiner Stach. Vor sechs Jahren erschien der erste Band seiner Kafka-Biografie, in Kürze folgt der zweite. (Foto: dpa) dpa-Zentralbild

Hamburg/dpa - Aber einen langen,wenn auch vergänglichen Blick auf Kafkas Leben hält er für möglich.Vor sechs Jahren erschien der erste Band seiner Kafka-Biografie («DieJahre der Entscheidungen»), nun folgt der zweite («Die Jahre derErkenntnis», beide im S.Fischer Verlag). Der LiteraturwissenschaftlerStach versucht, sich in Kafka (1883-1924) und die Menschen um ihnherum einzufühlen, aber er berichtet nur, was sich belegen lässt.

Herr Stach, warum geht uns Kafka derart unter die Haut?

Stach: «Darüber brüten schon Generationen. Das gilt ja selbst fürLeute, die nichts über Kafka wissen und keine Vorstellung von seinerLebenswelt haben. Stellen Sie sich einen Studenten in Japan vor, fürden Kafka Pflichtlektüre ist. Selbst von solchen Lesern hört manimmer wieder, die Texte gingen ihnen unter die Haut. Das kann nurbedeuten, dass die Schicht, die er da anspricht in uns, tiefer liegtals die kulturellen Prägungen. Ich glaube, dass zum Beispiel dieAngst vor anonymen Lebensmächten über alle Kulturgrenzenhinausreicht. So dass etwas wie "der Prozess" internationalverstanden werden kann. Ich glaube, die Wirkung von Kafka kommtdaher, dass er diese sehr tiefe, im Unbewussten verborgene Schichtanspricht. Es sind ähnliche Mittel, mit denen der Film arbeitet, zumBeispiel, indem er auf den Schrecken nur deutet, ihn aber nichtzeigt. Die Folge ist, dass jeder auf der Welt dort, wo die leereFläche ist, seinen eigenen Schrecken sieht. Das macht Kafka auch. Erzeigt die Richter im "Prozess" nicht, und er sagt auch nicht, wie esin den obersten Instanzen zugeht. Die Fantasie macht mehr Angst alsdie Realität.»

Das, was Kafka anspricht - Selbstzweifel, Bindungsangst, Panik davor,das Leben zu verpassen - scheint ja ziemlich aktuell zu sein, oder?

Stach: «Ja, selbstverständlich. Ich habe oft Passagen von Kafka auchLeuten vorgelesen, die von seiner Literatur wenig Ahnung hatten, unddie haben immer wieder gesagt: Das kennen wir doch. Wenn Sie zumBeispiel Schülern "Eine kaiserliche Botschaft" vorlesen, dann weißnicht jeder, was der Text genau bedeutet. Aber jeder ist berührt.Dass der Kaiser mir persönlich eine Botschaft sendet, und dieseBotschaft kommt niemals an - da läuft es einem kalt den Rückenrunter, denn diese Situation ist ja eigentlich schlimmer, als wenn esweder den Kaiser noch die Botschaft gäbe. Kafkas Kunst besteht darin,dass er die adäquaten, wirkungsvollsten Bilder und Metaphern findet.Ich habe mich lange gefragt, wie es eigentlich kommt, dass KafkasTexte gar nicht altern, dass sie gar keine Patina anzusetzenscheinen. Während andere Texte von gleichem sprachlichen Niveau, etwavon Thomas Mann, deutlich Patina ansetzen, weil man das Gefühl hat,die Probleme, um die es da geht, entfernen sich von uns immer weiter.Das kann nur bedeuten, dass diese Probleme konkreter sind, dass siealso einmal aktuell waren und nun allmählich historisch werden, etwadie Rolle der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft oder daszivilisatorische Versagen der Deutschen nach 1933. Während bei Kafkaein tieferes, sozusagen "zeitloses" Erleben angesprochen wird, zumBeispiel die unheimliche Tatsache, dass man sich selbst niemalsvöllig verstehen kann. Man kann schon sagen, Kafka spielt in einereigenen Liga.»

Viele stellen sich Kafka als rauschhaften nächtlichen Schreiber vor,dem seine Texte gleichsam passieren. War das so, oder hat er seineMittel bewusst eingesetzt, hatte er sein Handwerkszeug im Griff?

Stach: «Das hatte er auf jeden Fall. Das war eine kontrollierteEkstase. Er nennt es zwar nicht so, aber es gibt Briefstellen, indenen er gesteht, dass er Szenen, in denen jemand zu Tode kommt, sehrbewusst auf die Wirkung auf den Leser hin konzipiert hat. ZumBeispiel das Sterben des Käfers in der "Verwandlung". Es ist schon sogeschrieben, dass es einen mitnimmt, und das ist Absicht. Er hat esFreunden vorgelesen, er hat die Wirkung beobachtet, und er hat damitgespielt.»

Aber war er nicht auch schreibsüchtig? Hat es nicht schon etwasKrankhaftes, wie sehr er das Schreiben brauchte?

Stach: «Krankhaft würde ich nicht sagen. Er hat das Bewusstseingehabt, dass er in der Sprache lebt. Die Sprache war sozusagen seinSauerstoff, sein Lebensstoff. Das heißt auch, dass er das Schreibenoft als Selbsttherapie benutzt hat. Er konnte ja nie lockerlassen,stand immer unter psychischem Hochdruck. Wenn die Impulse, die voninnen kamen, übermächtig wurden und ihn so bedroht haben, dass er dasGefühl bekam, die psychische Balance gehe verloren, dann hat ermanchmal das Schreiben bewusst als Therapeutikum eingesetzt. ZumBeispiel der Winter, in dem er "Das Schloss" konzipierte. Da geht ausdem Tagebuch deutlich hervor, dass er sich in eine größere Arbeit zuretten versuchte.»

Hat ihn die Angst, man könnte ihm das Schreiben nehmen, aus seinenVerlobungen, aus seiner Familie hinausgetrieben?

Stach: «Der Preis, den er bezahlt hat, war sehr hoch, aber dieseBedeutung des Schreibens gilt ja nicht für das ganze Leben. Es gabauch lange Schreibflauten. Zum Beispiel nach der Schreibphase 1914/15- als sie aufhörte, brach auch "Der Prozess" ab, und dann kam eineFlaute, die dauerte anderthalb Jahre. Und ich bin mir nicht sicher,ob sich Kafka in dieser Zeit überhaupt noch als Schriftstellergesehen hat. Ich glaube nicht. Er hat nicht einmal mehr Tagebuchgeschrieben. Als er dann den Versuch machte, aus diesen totenGewässern wieder herauszukommen, hatte er auch keine Lust mehr zuerzählen, sondern er wollte etwas ganz anderes machen. Er hat dannParabeln geschrieben, die im Band "Ein Landarzt" gesammelt wurden,und das sind völlig andere Texte als "Das Urteil" und "DieVerwandlung", nämlich Reflexionstexte.»

Wie kommt es, dass Kafka - wie kaum ein anderer Autor - Leute dazubringt, über ihn zu schreiben?

Stach: «Das hat er provoziert. Wegen ihrer Mehrdeutigkeit, aber auch,weil sie im entscheidenden Moment nicht präzise sind, provozierenseine Texte die Frage nach ihrer Bedeutung. Wenn Sie sich zumBeispiel das Manuskript des "Schloss"-Romans anschauen, dann sehenSie, dass Kafka an vielen Stellen den Text, der ihm zu eindeutig war,mit voller Absicht mehrdeutig gemacht hat. Außerdem handeln vieleseiner Erzählungen ja gerade von der vergeblichen Anstrengung, etwaszu verstehen - da scheint es manchmal, als mache er sich einen Spaßmit der Neugier seiner Leser.»

Gilt das auch für Kafkas Leben? Bleibt das auch im Uneindeutigen, imUnentschiedenen? Wenn er heiraten will, es aber nicht tut, wenn ernach Berlin gehen will, aber in Prag bleibt?

Stach: «Das hat sicherlich neurotische Züge. Es ist das Verhalten vonMenschen, die, wenn sie schwierige Entscheidungen treffen müssen,nicht zwischen zwei oder drei Gründen und Gegengründen abwägen,sondern zwischen hundert. Wenn man leben will, muss manEntscheidungen treffen, man kann sie nicht ewig hinauszögern, manmuss den Reflexionsprozess irgendwann abbrechen und sagen: Wenn ichnicht auf rationalem Weg herausfinde, was besser für mich ist, dannmuss ich eine Bauch-Entscheidung treffen. Aber jetzt stellen Sie sichjemanden vor, der psychisch nicht in der Lage ist zu sagen: Jetztbreche ich ab und fälle eine Entscheidung nach Gefühl. Dieser Sprungwar Kafka zumeist verwehrt, und das ist ein eindeutig neurotischesSymptom, mit dem er auch anderen das Leben schwer gemacht hat. Ermacht ja sogar einmal eine Tabelle mit Gründen für und gegen eineHeirat mit Felice Bauer. Aber so kann man zu keinen tragfähigenEntscheidungen kommen, jedenfalls nicht, wenn es um sozialeBeziehungen geht.»

Warum lesen so viele Menschen Bücher über Kafka, dessen Leben dochäußerlich eher langweilig war?

Stach: «Ich empfinde es nicht als langweilig. Im heutigen Event-Sinnhat er wenig erlebt. Aber der Modernitätsschub, den er mitgemacht undgenau beobachtet hat, war ungeheuerlich. Der Siegeszug von Auto,Flugzeug und Telefon. Der Weltkrieg, das Kollabieren derGesellschaft, in der er aufgewachsen war. Die Juden, die ohnehinschon immer bedroht waren und die sich nun plötzlich ohne staatlichenSchutz sahen. Er wachte auf und es gab kein Österreich-Ungarn mehr,er war Bürger einer tschechischen Republik, in der viele Politikerantideutsch und antisemitisch waren. Das ist auch der Grund, warum erimmer mehr mit dem Gedanken an Palästina gespielt hat. Das war nichtmehr seine Welt, was er da vorfand.»

In den letzten Monaten seines Lebens, als er mit Dora Diamantzusammenlebte, scheint er ein ganz anderer Mensch gewesen zu sein.Hätte er derart lockerlassen können, wenn er nicht schon todkrankgewesen wäre?

Stach: «Nein, das hätte er nicht gekonnt. Er hat immer versucht,möglichst wenig von seiner Intimität preiszugeben, andere nicht zunahe an sich herankommen zu lassen. Das musste er aber am Ende. Dablieb ihm gar nichts anderes übrig, weil er körperlich hilflos war.Er musste sich damit abfinden, dass andere Menschen sich in seinLeben einmischen, und er konnte nur noch darum kämpfen, dass dasnicht die falschen Menschen waren. Seine asketische Lebensform brachzusammen unter seiner Krankheit.»

Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 729 S., Euro 29,90 ISBN 978-3-10-075119-5