Interview mit Ilse Junkermann Interview mit Ilse Junkermann: Landesbischöfin über Kirchenaustritte

Halle (Saale) - Ilse Junkermann, Jahrgang 1957, ist seit 2009 Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Bei einem Redaktionsbesuch bei der Mitteldeutschen Zeitung sprach sie am Freitag mit Andreas Montag und Sibylle Quenett.
Frau Junkermann, wie geht es Ihrer Kirche? Zuletzt hörte man von einer Zunahme der Austritte im Zusammenhang mit neuen Regelungen bei der Erhebung von Kirchensteuer auf Vermögen?
Junkermann: Leider muss ich das bestätigen, im vergangenen Jahr ist das so gewesen. Die Zahlen für den Januar liegen mir noch nicht vor. Allerdings handelt es sich ja nicht um neue Steuerregeln, nur das Einzugsverfahren ist verändert. Früher wurden Vermögen bei der Einkommenssteuererklärung abgefragt, jetzt wird das direkt über die Banken abgewickelt. Hier hat die Information bis heute nicht gut funktioniert.
Derart große Vermögen, um die die Menschen sich sorgen müssten, gibt es doch in Mitteldeutschland vermutlich eher weniger?
Junkermann: Ich bin sehr froh, dass unser Finanzdezernent ein neues Informationsblatt aufgelegt hat, in dem er Beispielrechnungen angestellt hat. Daran können die Menschen selbst einschätzen, ob sie überhaupt davon betroffen sind.
Wie hoch liegen die Austrittszahlen?
Junkermann: Wir hatten vor den jüngsten Irritationen und dem dadurch bedingten Anstieg einen jährlichen Verlust von 15- bis 20 000 Mitgliedern, drei Viertel davon sind Todesfälle. Hier trifft uns in Mitteldeutschland die demografische Entwicklung besonders stark. Die Austritte lagen bei etwa 5 000, die Zahl hat sich im letzten Jahr verdoppelt. Im Vergleich zu den Landeskirchen im Westen ist dies eine geringe Austrittsrate.
Ihr stehen bei uns jährlich zwischen 5- und 7 000 Zugänge durch Taufen und Eintritte gegenüber. Derzeit bereiten wir vor, unsere Wiedereintrittsstellen flächendeckend auszudehnen. Dort kann ein Austritt binnen eines Jahres ohne größere Formalitäten rückgängig gemacht werden. Und wir haben vor, dass die Landesbischöfin jedem Ausgetretenen schreibt: Welche Gründe haben Sie zum Austritt bewegt? Was vermissen Sie? Was vermissen Menschen denn an ihrer Kirche?
Junkermann: Ich denke, für viele, die ausgetreten sind, ist die finanzielle Bindung über die Kirchensteuer die stärkste verbliebene Bindung gewesen. Es gibt aber auch Ergebnisse von Befragungen, die belegen, dass viele Mitglieder gern der Kirche angehören, sich aber nicht so verhalten wollen wie die Kerngemeinde. Ihnen genügt Kirche, wenn sie sie brauchen, zu Festen und im Trauerfall. Das wirkt dann offenbar nicht so stark bindend.
Wir steuern dem Reformationsjubiläum entgegen. Und Mitteldeutschland ist die Region mit der weltweit schwächsten christlichen Bindung.
Junkermann: Zusammen mit Tschechien.
Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite.
Das ist eigentlich ein Missionsauftrag. Wie kann man den erfüllen?
Junkermann: Ich bin sehr froh über das Reformationsjubiläum. Es bietet neue Möglichkeiten, Menschen besonders anzusprechen zu Fragen des Glaubens und der Religion, die über zwei oder drei Generationen keine Erfahrungen mehr damit verbinden. Wir wollen in den einzelnen Regionen deutlich machen: Was hat Reformation eigentlich bedeutet? Und was kann man heute damit anfangen?
Wir wollen auch die weltweite Wirkung der Reformation herausstellen. Anfang Januar waren 30 lutherische Bischöfe aus den USA in Halle und haben mit großer Ehrfurcht die Briefe angeschaut, die August Hermann Francke an Henry Melchior Mühlenberg geschrieben hat, der die amerikanische Verfassung mit unterzeichnet hat und wesentlich von Franckes aufklärerischem Pietismus geprägt war.
Manche befürchten, das Reformationsjubiläum könnte als ein großes Volksfest in Wittenberg missverstanden werden, das Spirituelle käme zu kurz. Teilen Sie diese Befürchtung?
Junkermann: Die Kunst wird darin bestehen zu zeigen, dass die Art, in der wir feiern, ein Ausdruck des Glaubens ist Deshalb feiern wir einen großen Gottesdienst in Wittenberg. Und wir feiern mit einer Weltausstellung, in der sich die Kirchen der Welt präsentieren und zeigen, wie der Glaube weltweit gelebt wird. Nicht im Feiern selbst liegt eine Gefahr, sondern darin, dass die Feier ein großer Event wird und die Inhalte die Feier zu wenig prägen.
Die Gegend, aus der Luther kommt, das Mansfelder Land, ist damals eine „Boomregion“ gewesen - heute ist leider das Gegenteil der Fall. Spielt das bei den Planungen für das Reformationsjubiläum eine Rolle?
Junkermann: Tage verteilt. Dazu gehört auch das Angebot, ins Mansfelder Land zu fahren - eine Region, die von Armut, Arbeitslosigkeit und nur wenigen Christen geprägt ist. Darin liegt ja eine große Spannung: Wie lebt man dort als Christ?
Glauben zu gestalten heißt vor Ort, auch in Mansfeld, mit unseren geringer gewordenen Kräften Zeugen des Evangeliums zu sein, sich als gute Mitmenschen und Nachbarn einzubringen.
Sind Christen bessere Menschen?
Junkermann: Christen sind Menschen wie alle anderen auch. Sie haben allerdings eine gute Botschaft, die ihnen zum Beispiel in Diktaturen geholfen hat, sich zu bewähren, wenn sie an den Rand gedrängt wurden. Gerade in Regionen wie dem Mansfelder Land sind alle, die sich engagieren, ob Christen oder nicht, in einem Boot, wenn es darum geht, Zivilgesellschaft zu gestalten. Es gibt eine große Bereitschaft dazu.
Bedauern Sie es manchmal, dass Ihnen durch die Folgen der Reformation ein Instrument nicht mehr zur Verfügung steht: Die Gründung von Klöstern, die Präsenz zeigten und eine Botschaft aussandten?
Junkermann: (lacht) Geschichte wiederholt sich nicht. Ich hatte eben mein jährliches Treffen mit den geistlichen Kommunitäten und Gemeinschaften. Was sie berichten über ihr Leben, über besondere Angebote der Seelsorge und Begleitung - das scheint mir ein Modell der Gegenwart und Zukunft zu sein. Neben diesen neuen Formen ist es aber wichtig, unsere traditionellen Gemeinden neu zu entdecken. „Jeder Christ kriecht aus der Taufe als Priester“, hat Luther gesagt. Das heißt, jeder von uns hat einen Verkündigungsauftrag.
Ich sehe uns vor der großen Chance und Herausforderung, aus einer Behördenkirche, die am Pfarramt orientiert ist, zu einer Gemeinde- und Beteiligungskirche zu werden.
Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite.
Warum gelingt es den großen christlichen Kirchen nur unzureichend, die Fragen der Sinnsucher zu beantworten? Wo liegt das Problem?
Junkermann: Es gibt äußere wie innere Gründe. Zu den äußeren zähle ich alles, was unter den Begriff Postmoderne fällt: Kritik an den Institutionen, Individualisierung, Segmentierung der Lebenswelten. Die jungen Kirchen, die Freikirchen können damit viel besser umgehen als die alten. Die müssen sich entscheiden, was ihnen wichtiger ist, stark vereinfacht: Die Tradition zu bewahren oder bei den Menschen zu sein. Damit bin ich bei den inneren Gründen. Es gibt ein großes Missverständnis in der Kirche: Wir müssten für die Wahrheit einstehen. Dafür stehen aber Jesus und das Evangelium. Wir Christen müssen die Wahrheit nicht beweisen, wir müssen sie nur bezeugen. Sie liegt darin, dass Gott sich jedem Menschen zuwendet und ihm eine Würde zuspricht, die er nicht verlieren kann. Dies zu vermitteln, dafür fehlt es oft auch an der Sprachfähigkeit.
Fehlt der Evangelischen Kirche eine Institution wie Papst Franziskus, der auf viel Zuspruch stößt?
Junkermann: Es gibt vieles, das uns trennt, aber wir haben auch viel gemeinsam. Was der Papst über Asylpolitik und die Verantwortung Europas gesagt hat, ist eine Hilfe für uns alle gewesen. Er fehlt uns nicht im Lehramtlichen, das ist eher ein Hindernis in einer Zeit, die gegen Zentralismus und für flache Hierarchien steht.
Was uns fehlt, sind öffentliche Identifikationsfiguren, an denen man sich auch abarbeiten kann. Und ich bin ganz froh, dass durch seine Klaps-Äußerung deutlich geworden ist: Auch dieser Papst ist kein Halbgott, sondern ein Mann eines bestimmten Alters, der in seiner Kultur verankert ist.
Die Flüchtlingsfrage, von der Sie sprachen, ist zum Anlass geworden, Ängste auf die Straße zu tragen. Wie bekommen wir wieder Frieden?
Junkermann: Ein biblisches Wort sagt, Frieden kommt durch Gerechtigkeit. Das halte ich für wesentlich. Die wachsende Schere zwischen Arm und Reich ist einer der Hintergründe, weshalb Menschen sich hilflos fühlen. Hinzu kommt, dass im Osten die Wendefolgen zum Beispiel im Bereich der Renten individualisiert werden. Die individuellen Biografien kann man nicht ändern. Aber wie steht es hier um Gerechtigkeit und solidarisches Teilen?
Frieden in der Gesellschaft herzustellen, ist eine politische Aufgabe. Alle, die im öffentlichen Raum wirken, Kirchen wie Medien, sind verpflichtet, Probleme in den Diskurs einzubringen. Jene, die politisch arbeiten, sind verpflichtet, die Dinge anzugehen, nach Lösungen zu suchen. Und die Dinge nicht zu verschärfen. In der Verschärfung der Regelungen für das Kirchenasyl zum Beispiel, die der Innenminister angekündigt hat, liegt keine Lösung des Problems.
Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite.
Verschärfung bedeutet, dass sich derjenige, der sich im Kirchenasyl befindet, länger dort bleiben muss...
Junkermann: Und dass der Asylsuchende als flüchtig gilt. Aber jedes Kirchenasyl wird den Behörden angezeigt, die Kirchen nehmen nicht für sich in Anspruch, ein rechtsfreier Raum zu sein, sondern ein Freiraum, um Dinge, die die nach Überzeugung und sorgfältigen Prüfung noch nicht hinreichend geklärt worden sind, zu prüfen. Die Verschärfung bedeutet nun aber möglicherweise, dass der Aufenthalt im Kirchenasyl auf 18 Monate verlängert wird und der Asylsuchende danach, weil er ja als flüchtig gilt, sofort abgeschoben wird.
Ich bin froh über die die Überlegung aus dem Ministerium, dass die Gemeinden, bevor ein Kirchenasyl beginnt, ein Dossier zusammenstellen um darzulegen, weshalb ein solches Asyl für sie begründet ist. Dies soll dann noch einmal von den Behörden geprüft werden. Das fände ich gut.
Im Übrigen sollte die europäische Flüchtlingspolitik dahingehend geändert werden, dass Flüchtlinge dorthin gehen dürfen, wo sie Kontakte haben und die Länder einen entsprechenden Ausgleich untereinander schaffen.
Es ist ein Skandal, dass Europa, das für Menschenrechte steht, Italien nicht bei der Aktion Mare Nostrum unterstützt hat - und dass nun wieder viel mehr Flüchtlinge im Mittelmeer umkommen.
Unter den Pegida-Anhängern sind einer Befragung zufolge auch viele Menschen, die überdurchschnittlich verdienen. Wie erklären Sie sich das Phänomen?
Junkermann: Das Ergebnis der Befragung basiert auf den Aussagen derer, die sich einließen. Ich denke, dass unter denen, die der Bewegung folgen, viele sind, die von Armut betroffen sind. Bei jenen, die nicht in erster Linie aus sozialen Gründen auf die Straße gehen, hat es vermutlich viel mit Heimat zu tun. Sie erinnern nicht ohne Grund an die Rufe vom Herbst 1989: „Wir sind das Volk!“.
Damit haben sie den Zusammenbruch des bis dahin Vertrauten bewältigt und gesagt: Wir gestalten das jetzt neu. Vieles ist dann aber aus dem Westen übernommen worden, weil es gar nicht anders machbar war.
Nun, da die Frage einer multikulturellen Gesellschaft steht, haben viele die Sorge, diesen erneuten Übergang nicht zu verkraften. Dem kann man nur mit der Bitte begegnen, den fremden Nachbarn kennenzulernen. Da sind die Kirchengemeinden gefordert, aber auch die Politiker. Man muss mit den Demonstranten reden. Es kann ja nicht angehen, sie einfach abzutun und beiseite zu stellen.
(mz)