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Inszenierung Inszenierung: Bariton Tomas Möwes ist das eigentliche Ereignis

Von UTE VAN DER SANDEN 03.06.2010, 17:20

LEIPZIG/MZ. - In den wirklichen und eingebildeten Realitäten jener Kreatur findet sich der Zuschauer nicht gleich zurecht: Ein Mann in besten Jahren, der sich an seiner braunen Aktentasche ebenso festklammert wie am Gedanken, in die "Dependance" zu müssen, der hinter der Direktorentochter her ist und sich am Ende der qualvollen psychischen Selbstauflösung für den König von Spanien hält. Doch hat man erst kapiert, was hier gespielt wird, ist es grandios.

Claudia Forner inszenierte das "Tagebuch eines Wahnsinnigen" für das Kellertheater an der Oper Leipzig: virtuos, sparsam im Umgang mit den Mitteln, mitten aus dem Alltag einer Figur heraus, die Einsamkeit und irrelevante Sehnsüchten quälen. Nach der Lissaboner Uraufführung hat der junge portugiesische Komponist Manuel Durãos seine Nacherzählung von Nikolai Gogols Novelle für die deutsche Erstaufführung überarbeitet.

Durão studiert noch, derzeit in Leipzig, seine Tonsprache wirkt dennoch erstaunlich gereift. Die Einflüsse aus der Tradition Strawinskys sind spürbar, Swing blitzt auf, dazwischen aleatorische Passagen. Immer wieder hält die akzentreiche Partitur Überraschungen bereit: Erst imitiert das Kontrabassduo quietschende Hündchen, dann wird der Wahnsinnige von einem Krönungsmarsch auf den fiktiven Thron eskortiert. Neu ist das zwar nicht, aber originell.

Doch was wäre die Kammeroper für einen sprechenden Sänger und sieben Instrumentalisten ohne diesen Solodarsteller? Bariton Tomas Möwes ist das eigentliche Ereignis: Zwischen Flüstern und Schreien, rasender Verzweiflung und ironischer Selbstdistanz, zwischen Lakonie, Galgenhumor und Wut schildert er galoppierenden Verlust an Raum und Zeit. Ob er Bett und Boden verwechselt, Ferdinand der Achte zu sein glaubt oder nach der Mama ruft: Immer umfängt sein wohldosierter Ausdruck den Charakter als schützende Hülle gegen ungebremstes Mitgefühl.

Nach dem gut einstündigen Edelsolo hätte Schluss sein können - und sollen. Aber der Chefregisseur der Oper wartete erneut mit einer Bach-Kantate auf: Peter Konwitschnys szenischer Kommentar zu "O Ewigkeit, du Donnerwort" wurde vom Premierenpublikum so frenetisch beklatscht wie das Eingangswerk. Beide Produktionen mit der Sinfonietta Leipzig unter Leitung von Johannes Harneit sind noch dreimal zu sehen.

Musizierende Leichen also. Im Beerdigungsinstitut lagern Lena Belkina und Martin Petzold als "Furcht" und "Hoffnung" auf dem Totenbett. Sie singen im Liegen, mit geschlossenen Augen in geweißten Gesichtern, die Hosenbeine bedepperter Totengräber krallend, ohne Sichtkontakt zum Orchester. Über der "Furcht" macht Vox Christi persönlich den Deckel zu, denn die Stimme vom Himmel wurde dem Bestatter einverleibt. Zum Schlusschoral "Es ist genug" sendet ein Videobeamer Sequenzen aus dem Orbit.

Als boshafter Videoclip für tolle Sargnägel wäre das vielleicht witzig. Hier wirkt der demonstrative Verzicht auf Pietät tödlich vor allem gegen die Musik, welcher aus lauter Amüsement oder Entsetzen, je nachdem, niemand recht zu folgen vermag. Ein Pappschild mit der Aufschrift "Provokation" hätte denselben Effekt erzielt: Der Tabubruch als Pose - das ist nicht genug. Es ist zu viel.

Weitere Vorstellungen: 6. und 8. Juni, 20 Uhr; 12. Juni, 15 Uhr