In «Wir Ertrunkenen» erzählt das Kollektiv
Hamburg/dpa. - Hamburg Mit dem Titel «Wir Ertrunkenen» treibt der dänische Autor Carsten Jensen das Erzählprinzip seines Romans auf die Spitze. Denn Erzähler der Geschichten von der See, den Seeleuten und den Menschen, die von der See leben, ist das «Wir».
Die Gemeinschaft, die Klatsch verbreitet, Gerüchte erfindet und all jene Geschichten weiter trägt, die es verdienen, die Zeiten zu überdauern. «Durch das "wir" habe ich auch das Problem mit dem Tod gelöst, er spielt nun keine Rolle mehr. Individuen sterben, aber die Bevölkerung einer Stadt nicht», erklärt Jensen in einem Verlagstext seine ungewöhnliche Erzählperspektive. Zum «wir» gehören also auch jene, die auf See bleiben oder im Strudel der Zeit untergehen.
Das «Wir» erzählt von der «Weltstadt» Marstal, eigentlich eine kleine Stadt auf der Insel Aerö im Süden Dänemarks. Aber alle Straßen der Stadt führten einmal zum Hafen und damit in die Welt. «China lag in den Gärten hinter unseren Häusern. Durch die Fenster unserer niedrigen Stuben sahen wir die Küste Marokkos», schreibt Jensen. Es gab Zeiten, da besaß Marstal nach Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen die größte Flotte des Landes.
Zerstört wird diese Männerwelt voller Abenteuerlust von Frauen, die es leid sind, dass das Meer ihnen die Männer und Söhne entreißt und so manchen nie wieder her gibt. Oder waren es doch nicht die weiblichen Individuen, die einen Umschwung bewirkten, sondern eher die veränderten Wirtschaftsbedingungen?
Der Roman lässt diese und noch mehr Deutungen zu. So liebevoll und lebendig die einzelnen Menschen geschildert werden, sie sind doch immer mehr als sie selbst, werden zu Symbolen, zu Prototypen. So spiegelt auch die Stadt Marstal die Entwicklung Dänemarks, Europas oder gar der Welt wider.
Carsten Jensen, Jahrgang 1952, ist selbst in Marstal als Sohn eines Seemanns aufgewachsen. Doch er entschied sich für einen anderen Beruf. Er lebt heute in Kopenhagen, wo er Literaturwissenschaften studierte und zunächst als Journalist und Kritiker zu schreiben begann. Ersten Reisebüchern in den 90er Jahren folgten dann Romane. «Wir Ertrunkenen» ist Jensens dritter Roman. Er wurde unter anderem mit dem dänischen Literaturpreis ausgezeichnet. Nach Angaben des Knaus-Verlages soll das Buch in mehr als zehn Sprachen übersetzt werden.
Die fantastischen, skurrilen und anrührenden Geschichten, die Jensen mit viel Menschenliebe und noch mehr Spaß am Witz erzählt, umfassen die Lebenszeit von drei Generationen. Am Anfang steht Laurids Madsen, der 1864 im deutsch-dänischen Krieg bei der Explosion seines Schiffes in den Himmel fliegt und unversehrt wieder zur Erde zurückkehrt. Er ist überzeugt, dass seine Seestiefel einfach zu schwer waren für den Himmel. Doch nach diesem Erlebnis wird Laurids etwas eigenartig, und plötzlich ist er verschwunden. Eines Tages aber zieht sein Sohn Albert die schweren Seestiefel an und geht auf die Suche nach seinem Vater vielleicht, aber vor allem nach einem festen Standort in der Welt.
Zurück in Marstal wird Albert zum reichen Reeder und irgendwann auch zum Vorbild für einen kleinen Jungen ohne Vater. Als erwachsener Mann führt dieser Knud Erik den Rest einer aus vielen Nationen bunt zusammengewürfelt Schiffsbesatzung aus den Gefahren des Zweiten Weltkrieges zurück nach Marstal. Zusammengeschweißt wird die Gruppe durch die Sorge um ein Kleinkind namens Bluetooth. Blauzahn ist zwar auch der Name eines skandinavischen Helden des 10. Jahrhunderts, aber bekannter noch ist Bluetooth heute als Technik, die verschiedenen elektronischen Geräten ein Zusammenspiel ermöglicht ein kleiner Kalauer in der Symbolsprache des Romans.
Carsten Jensen
Wir Ertrunkenen
Knaus Verlag, München
784 Seiten, Euro 24,95
ISBN 978-3-8135-0301-2 (dpa)