Immanuel Kant Immanuel Kant: Stern am Denker-Himmel

Göttingen/MZ. - Die Bedeutung eines philosophischen Autors kann man an der Größe seiner historischen Wirkungen, an der Originalität der von ihm konzipierten neuen Fragestellungen und an der Tragfähigkeit der von ihm vorgeschlagenen Lösungen für wichtige philosophische Probleme messen.
Nach jedem dieser, voneinander nicht unabhängigen, Kriterien würde Kant - dessen 200. Todestags wir am Donnerstag gedenken - zu den klassischen Philosophen der ersten Größenordnung gehören. Seine Fragestellungen - nicht alle seine Antworten - haben in der Erkenntnistheorie und in der Wissenschaftstheorie die philosophische Diskussion bis in unsere Gegenwart bestimmt.
In der Ethik ist sein Ansatz, dass moralisch richtige Prinzipien des Handelns verallgemeinerbar sein müssen, bis heute, und heute gerade in besonderem Maße (wie in der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls) ein wichtiges Element der Diskussion über die Grundlagen moralischer Normen geblieben.
Kant-Jubiläen haben in Deutschland eine stabile Tradition. 1881 (100 Jahre nach dem Erscheinen der "Kritik der reinen Vernunft") meldete sich der noch frische "Neukantianismus" zu Wort. 1904 gab der 100. Todestag Kants willkommenen Anlaß, Kant zum Kronzeugen der Weltgeltung auch des deutschen Geistes zu machen. Die Feiern zum 200. Geburtstag 1924 prägte dann eher das Bedürfnis, in Zeiten nationaler Schwäche und politischer Verwirrung Orientierungshilfe bei Kant zu finden.
Bezeichnenderweise wurde Kant damals nicht so sehr als der "alleszermalmende" (Mendelssohn) Metaphysik-Kritiker und Erkenntnistheoretiker, sondern gerade als Begründer einer neuen Metaphysik gefeiert, dieser Perspektivenwechsel wurde in Martin Heideggers Kant-Buch "Kant und das Problem der Metaphysik" (1929) besiegelt.
Das Kant-Jubiläum von 1974 zeigte dann die imponierende internationale Präsenz Kants, besonders auch in den USA, wo seither einige der besten Beiträge zur Kant-Forschung erschienen sind und weiter erscheinen.
Warum lohnt es sich, im Zeitalter der Raumfahrt, der Gentechnologie und des Computers Kant zu lesen? Dafür gibt es mehrere Gründe: Kant hat als erster Denker die kühne Idee entwickelt, dass unsere Welterfahrung auf der Bearbeitung der Wahrnehmungsdaten durch uns angeborene subjektive Organisationsformen, besonders die Raum-Zeit-Ordnung und begriffliche Kategorien, z. B. das Kausalprinzip beruht. Die seitherige Diskussion geht vor allem darum, die Grenzen zwischen dem Anteil unserer subjektiven Rekonstruktionsformen der Wirklichkeit und dem uns vorliegenden "Rohstoff" der Erfahrung zu bestimmen.
Die Entwicklung der Naturwissenschaften hat Kants These, es gebe ein solches einziges, für alle Welterfahrung gültiges und allen Menschen gemeinsames Ordnungssystem, schrittweise immer fragwürdiger gemacht. Heute rechnen wir eher mit variablen Begriffssystemen für verschiedene Wirklichkeitsbereiche, die auch keine zeitlos absolute Geltung beanspruchen können, sondern die eher als Hypothesen zu betrachten sind, die sich im Vergleich mit der Fruchtbarkeit anderer Voraussetzungen bewähren müssen.
Ebenso fortwirkend kann man Kants in unvergesslichen Sätzen in der Schrift "Was ist Aufklärung?" von 1784 formulierte Aufforderung zum Selbstdenken nennen: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht im Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt... Sapere audé! Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung".
Es ist das Schicksal großer Philosophen, dass ihre Gedanken stets in Gefahr sind, der Banalisierung anheim zu fallen. Kants Lehre vom "Kategorischen Imperativ", der uns strikt verpflichtet, in moralisch relevanten Situationen der Stimme der Vernunft in uns zu folgen, wurde umgedeutet in eine Aufforderung, unbedingt unsere Pflicht zu tun, wobei Befehle der Obrigkeit durchaus an die Stelle des Sittengesetzes treten können. So konnte Kant leicht als Gewährsmann "preußischen Kadavergehorsams" missverstanden und missbraucht werden. Auch das vielleicht berühmteste Kant-Zitat; der Satz "Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Ehrfurcht und Bewunderung, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir" wird meistens missverstanden.
Es geht Kant hier nicht darum festzuhalten, dass wir bei Betrachtung des Sternenhimmels in eine andächtige Stimmung ("weißt Du, wieviel Sternlein stehen?") versetzt werden können und dass auch ein Blick in die Tiefe unseres Gemüts und unsere moralischen Beweggründe uns beeindrucken kann.
Nicht eigentlich "beide Dinge" - der Sternenhimmel und das moralische Gesetz - sind nach Kant Gegenstand der Ehrfurcht und Bewunderung, sondern ihr Verhältnis zueinander: das physische Universum beeindruckt durch seine Größe und Dynamik, gegenüber der der Mensch, angesiedelt auf der winzigen Erde, ("ein bloßer Punkt im Weltall"), ein physisches Nichts ist. Aber trotzdem, so Kant, kann der Mensch in aller seiner physischen Schwäche, als Intelligenz, sein Handeln nach Vernunftgründen selbst bestimmen und ist gegenüber der überwältigenden Determinationsmacht des Kosmos frei.
Der Gegensatz zwischen physischer Nichtigkeit und moralischer Größe des Menschen war für Kant auch deshalb so eindrucksvoll, weil er, wenn nicht der erste, doch jedenfalls einer der ersten Denker war, die die Vermutung äußerten, die sogenannten "Nebelsterne" in der Milchstraße könnten in Wirklichkeit eigene, weit entfernte Galaxien sein, und von diesen könne es im Universum so viele geben, wie Sterne in unserer Milchstraße.
Diese Vermutung Kants ist erst um 1920 und danach durch entsprechende Beobachtungen der Astronomen mit den damals zur Verfügung stehenden modernen Spiegelteleskopen bestätigt worden.
Ebenfalls seiner Zeit weit voraus war Kant mit der 1795 unter dem Titel "Zum ewigen Frieden" erschienenen Schrift, die den Vorschlag eines Völkerbundes republikanischer (d. h. demokratischer) Staaten enthielt, durch den die Herrschaft des Rechts auch unter den Völkern befördert werden sollte. Uns heute Lebenden erscheinen die Vorschläge Kants, nach den Katastrophen des vorigen Jahrhunderts, unmittelbar einleuchtend.
Zur Zeit der Veröffentlichung war die Aufnahme jedoch geteilt. So schrieb Wilhelm von Humboldt, ein später liberaler Staatsmann, an den mit ihm befreundeten Friedrich Schiller, ihn störe an der Schrift Kants sein "manchmal zu grell durchscheinender Demokratismus".
Kant gehört zu den Klassikern der Philosophie, weil man beim nachdenkenden Lesen seiner Schriften nicht Philosophie, sondern philosophieren lernt. Eine Forderung, die Kant selbst an den philosophischen Unterricht an den Universitäten gestellt hat. Auch dies ist ein noch nicht voll eingelöstes Postulat.