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Historiker und Zeitzeuge Historiker und Zeitzeuge: Wolfgang Leonhard ist tot

Von Christian Eger 17.08.2014, 09:52
Wolfgang Leonhard bekommt am 4. September 2009 den Europäischen Wissenschafts-Kulturpreis vom ehemaligen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) überreicht.
Wolfgang Leonhard bekommt am 4. September 2009 den Europäischen Wissenschafts-Kulturpreis vom ehemaligen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) überreicht. dpa Lizenz

Manderscheid - Er gehörte zu den Auserwählten. Warum, das war ihm selbst ein Rätsel. „Das möchte ich auch wissen“, antwortete Wolfgang Leonhard auf die gern gestellte Frage, wer ihn eigentlich in die „Gruppe Ulbricht“ berufen hatte. In jenen politischen Stoßtrupp, der am 30. April 1945 von Moskau aus mit einem Militärflugzeug nach Westen startete, um künftig die Ostdeutschen an die sowjetische Militärherrschaft zu gewöhnen. Die öffentliche Verwaltung war in Gang zu bringen, die Gründung von Parteien vorzubereiten, vielleicht die Einführung des sowjetischen Systems. Von letzterem durfte nicht die Rede sein. Das von Leonhard überlieferte Ulbricht-Zitat ist heute ein Klassiker: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“

Zehn Personen zählte die Gruppe, die mit Leonhard auf einem Feldflugplatz bei Küstrin landete – an jenem Tag, als sich Hitler in Berlin erschoss. Leonhard war in dieser Runde der Jüngste. 23 Jahre zählte der 1921 in Wien geborene Sohn der Luxemburg-Freundin Susanne Leonhard und des damaligen sowjetischen Botschafters. Wahrscheinlich gab Leonhards geringes Alter den Ausschlag zur Reise. Hauptsache jung. Schon damals: Leonhard, der Überflieger.

Der Transport nach Westen sollte Leonhards Leben verändern. Und seinen Vornamen. Eigentlich hieß er Wladimir. Aber man wollte die Deutschen nicht erschrecken. „Wladimir ist schlecht, hast Du keinen deutschen Vornamen?“, drang Ulbricht im Flugzeug auf Leonhard ein. Der bot daraufhin „Wolfgang“ an. Ulbricht: „Na gut, dann bist Du eben der Wolfgang.“ Der sollte sich in Berlin um den Aufbau der kommunalen Verwaltung kümmern.

Flucht nach Jugoslawien

Das ging gut bis 1949. Leonhard, der an der SED-Parteihochschule „Karl Marx“ Geschichte lehrte, litt darunter, dass insgeheim ein stalinistisches System aufgezogen wurde. „Mit jedem Monat wurde es schlimmer und schlimmer.“ Nicht in Moskau, sondern in Belgrad sah er den wahren Kommunismus wachsen. Im März 1949, ein halbes Jahr vor Gründung der DDR, floh Leonhard über Prag nach Jugoslawien, wo er bei Radio Belgrad anheuerte. Ein kurzer Einsatz. Schon 1950 siedelte der Flüchtling in die Bundesrepublik über. Anfangs lebte er in Köln, später im Eifelstädtchen Manderscheid. Leonhard avancierte zu einem der führenden „Kreml-Astrologen“: Jenen Moskau-Experten, die bei einem eklatanten Mangel an zuverlässigen Informationen trotzdem eine Prognose wagten. Das Ende des Kommunismus? Das habe er schon in den 70er Jahren „kristallklar“ vorhergesehen, gab Leonhard gerne zu Protokoll. „Wir wussten, dass das System nicht so fest ist, wie es schien.“

eiche Bücher füllte der Historiker, sein populärstes erschien 1955. Eigentlich sollte das Buch „Die Revolution frisst ihre Kinder heißen“. So wünschte es sich der Kölner Verleger Joseph Caspar Witsch. Leonhard war dagegen. „Herr Doktor Witsch, das ist zu hart. Wir haben Entstalinisierung unter Chruschtschow. Ein solcher Titel wäre Kalter Krieg.“ Und er schlug vor: „Die Revolution entlässt ihre Kinder“. Bei Lichte besehen ein misslungener Titel, denn die Revolution, die ja nachtragend und keinesfalls vergesslich ist, „entlässt“ niemanden. Das Buch nahm trotzdem seinen Weg. Ein Weltbestseller, 1962 in drei Teilen für das deutsche Fernsehen verfilmt.

Nicht-Verhältnis zur Mutter

Leonhard erzählt seine eigene Geschichte von 1935 an bis 1949. Die alleinerziehende Mutter ist eine Berufsrevolutionärin, die lieber einen Erwachsenen als ein Kind an ihrer Seite gehabt hätte. 1933 gibt sie den Jungen nach Schweden, bevor sie 1935 mit ihm ins sowjetische Exil zieht. Ein Fehler: 1936 wird Susanne Leonhard, die 1925 aus der KPD ausgetreten war und einer marxistischen Splittergruppe angehört, im Zuge der stalinistischen „Säuberung“ verhaftet. Für zehn Jahre verschwindet die Spartakistin im Arbeitslager Workuta.

Jahre, in denen der Sohn erst in einem Kinderheim, dann in Internatsschulen in Moskau aufwuchs. Leonhard studierte Fremdsprachen, um von 1943 an als Mitarbeiter des „Nationalkomitees Freies Deutschland“ zu wirken. Das Verhältnis zur Mutter blieb ein Nicht-Verhältnis. Immerhin ermöglichte es Ulbricht, dass Susanne Leonhard 1948 nach Westdeutschland ausreisen konnte.

Dort etablierte sich Leonhard als „Sowjetologe“. Und nicht nur dort. Im amerikanischen Yale lehrte der Deutsche von 1966 bis 1987 die Geschichte der UdSSR und des Kommunismus. Aus dem deutschen Fernsehen war er nicht wegzudenken: qualmende Pfeife, graue Scheitel-Tolle, energische Worftührung. Der Fall der Mauer bescherte ihm eine zweite Konjunktur. Auch in eigener Sache. Noch einmal ist er der Überflieger.

Bis zuletzt bewahrte Wolfgang Leonhard die schon früh eingeübte Neigung zu visionärer Politik. Alles praktische Klein-Klein langweilte ihn. Er träumte zuletzt von einer „revitalisierten“, einer „aufklärenden Demokratie mündiger Bürger, die sich mehr und mehr an Entscheidungsprozessen beteiligen.“ Von einer Ordnung, die Gesetze nur erlässt, „wenn fünfmal mehr dafür außer Kraft gesetzt werden.“ Eine Hoffnung, die für ihn unerfüllt bleiben muss. Nach mehr als 100 Kliniktagen ist Wolfgang Leonhard am Sonntag in Daun in der Eifel gestorben. Er wurde 93 Jahre alt.