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"Herr Lehmann"-Fortsetzung von Sven Regener "Herr Lehmann"-Fortsetzung von Sven Regener: Techno-Veteranen suchen das Herz

Von Andreas montag 19.10.2013, 16:04
Der erfolgreiche Musiker Sven Regener, Jahrgang 1961, glänzt auch als Erzähler.
Der erfolgreiche Musiker Sven Regener, Jahrgang 1961, glänzt auch als Erzähler. dpa Lizenz

Halle (Saale)/MZ - Karl Schmidt muss man einfach lieben. Ehemals als Charly in der Kreuzberger Subkultur des alten Westberlin bekannt, hat es Frank Lehmanns besten Freund kurz vor dem Mauerfall aus dem Rennen geworfen: Depressionen, Schlafentzug und selbstgemixte Pillencocktails haben dem raubeinigen Lebenskünstler, der in Wahrheit ein Sensibelchen ist, den Rest gegeben. Wir haben diesen schweren Nervenzusammenbruch seinerzeit nicht ohne Rührung verfolgt in Sven Regeners Roman „Herr Lehmann“.

Nun ist Charly wieder am Start, er ist die Hauptfigur in Regeners neuem Roman „Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt“. Ein wunderbares, hinreißendes Buch, das vor allem von seinem herrlich trockenen, norddeutschen Humor lebt, den der gebürtige Bremer mit traumwandlerischer Sicherheit beherrscht.

Die Geschichte setzt fünf Jahre nach Charlys Blackout ein. Aus der Psychiatrie verschlug es ihn nach Hamburg, wo er in einer Wohngemeinschaft für Suchtkranke lebt, immer unter der Fuchtel des manischen Sozialpädagogen Werner.

Es riecht nach lebenslänglich für Karl Schmidt. Und traut er sich doch ins Altonaer Eiscafé „La Romantica“, hat er ein schlechtes Gewissen. Und Angst, dass ihn einer seiner Mitbewohner sieht und bei Werner verpetzt. Dabei verzehrt er dort nichts als einen Eisbecher „Monteverdi“ - natürlich ohne Eierlikör und Maraschino-Kirsche.

Charly ist trocken, einzig Kaffee und Zigaretten sind ihm als Genussmittel noch erlaubt. Und manchmal erlaubt er sich eben ein Eis. In dieser Lage trifft ihn sein alter Kumpel Raimund Schulte. Der hatte in Hamburg zu tun und muss noch eine Stunde Zeit totschlagen, bis sein Zug nach Berlin fährt.

Nüchterner Fahrer auf „Magical Mystery Tour“

Raimund faselt vom Erfolg, den sie jetzt haben. Vom Geld, das Ferdi und er mit ihrem Club „BummBumm“ und ihrem Plattenlabel verdienen. Alles tippitoppi, sagt Raimund. Das geht richtig durch die Decke gerade. Staunend, wenn auch distanziert, hört Charly diese Botschaften aus einer anderen Welt. Es interessiert ihn schon, was dort abgeht, wo er selber mal mittendrin gesteckt hat. Nun lebt er weit weg davon in seiner gemischtgeschlechtlichen WG mit Leuten wie Astrid und Klaus-Dieter, das ist kein Spaß. Und als Raimund dann abgerauscht ist, sitzt der Stachel in Charlys Herz schon ziemlich fest.

Was sollte ihn auch halten? Allenfalls sein mies bezahlter Job als Hilfshausmeister im Kinderheim, zu dem sogar ein kleiner Tierpark gehört. Charly, der Ich-Erzähler, tut zwar so, als ob ihm das alles total gleichgültig wäre, doch das glaubt er ja selber nicht.

Dann kommt, wie es sich für einen ordentlichen Roman gehört, Bewegung in die Sache. Die Stelle des versoffenen, abwesenden Hausmeisters übernimmt ein fitter Neuling, der Charly mit sägender Präzision die Laune vermiest. Und Werner, der Herbergsvater, verschwindet bald für drei Wochen in Urlaub. Da meldet sich Raimund am Telefon, die WG steht Kopf. Und Charly macht sich aus dem Staub, statt in das verordnete Ferienheim in der Lüneburger Heide reist er nach Berlin, zu Raimund, Ferdi und dem wilden Leben. Sie brauchen ihn dort, er soll den nüchternen Fahrer geben auf der „Magical Mystery Tour“, mit der die Techno-Veteranen „das Herz der Sache wiederfinden“ wollen. BummBumm soll mit Hippie-Gefühl aufgeladen werden, damit der lahmende Laden wieder auf Trab kommt.

Techno-Szene mit sarkastisch-liebevoller Ironie dargestellt

Regener, der mit Element of Crime ein erfolgreicher Produzent handgemachter Musik ist, beschreibt die Elektro-Szene mit Hingabe und sarkastisch-liebevoller Ironie. Da ist Raimund, ein erfolgreicher DJ und eine Labertasche vor dem Herrn, dort Ferdi, der den Betrieb zusammenhält. Und all die anderen bunten Vögel, die in Berlins wiedergefundener Mitte hocken und unablässig asiatische Suppen löffeln, Joints rauchen und auf die Veröffentlichung der Charts warten. Dann wird Champagner gekübelt, der Kühlschrank ist immer voll mit dem Zeug.

Linear erzählt, mit endlosen Dialogen und inneren Monologen, hätte es gut und gerne auch ein langweiliges Buch werden können. Aber weil Regener eben ein Meister der nöligen, mit Plattitüden spielenden Technik ist, fasziniert der Roman wie ein guter Thriller.

„Hingehen, wo es wehtut“ heißt es, wenn Schrankenhusen-Borstel auf dem Tour-Plan steht. Das Porträt des Installationskünstlers Schlumberger aber ist der Punkt auf dem „i“. Kunstfreunde werden Martin Kippenberger darin erkennen. Und einstimmen in ein Lob auf Regener. Tolles Buch!