Harry Graf Kessler Harry Graf Kessler: Der Bauhaus-Pate
Berlin - Mitteldeutschland hat ihm viel zu verdanken. Ohne ihn, Harry Graf Kessler, den 1868 geborenen Kulturmanager, Verleger und Mäzen, hätte es das Bauhaus weder in Weimar noch in Dessau gegeben. Hätte Kessler nicht 1902 den belgischen Designer Henry van der Velde als Leiter der Großherzoglichen Kunstgewerbeschule nach Weimar gelockt, wäre Gropius nie auf die Idee gekommen, mit seiner Truppe 1919 ausgerechnet nach Mitteldeutschland zu ziehen, um aus der Kunstgewerbeschule das Bauhaus zu machen. Hätte sich Gropius für den Süden oder Westen Deutschland entschieden: Dessau wäre nie in den Blick geraten.
Wenn Sachsen-Anhalt also in diesem Jahr unter dem Motto „Große Pläne“ die Angewandte Moderne feiert, ehrt sie, ohne dass es eigens thematisiert wird, indirekt auch deren Patenonkel, als den man Kessler begreifen darf. Große Pläne hatte der Berliner Millionen-Erbe immer, und seine Tätigkeit im Weimar der Jahre 1903 bis 1906 galt deren Umsetzung: Er öffnete von Thüringen aus Deutschland für die französische Moderne, für die Impressionisten und Neo-Impressionisten, er plante eine neue Art von Theater, hob den Deutschen Künstlerbund aus der Taufe und gründete mit der bibliophilen Cranach-Presse einen der denkwürdigsten deutschen Verlage.
Lange ließe sich diese Liste fortsetzen, die sich einem Grundsatz des in Paris geborenen und in Berlin lebenden Sohnes eines in Paris ansässigen Hamburger Bankiers und einer adligen irischen Schönheit verdankte: Kessler begriff die Kunst als ein Medium der ganzheitlichen Bildung. Keine innere Balance ohne Musik, Tanz, Malerei und Literatur. Kein gelingender politischer Aufbruch ohne die Internationale der Kunst, die gegen die Beschränktheit des Nationalismus in Stellung zu bringen ist.
Wie, womit und mit wem das Kessler bis zu seinem Tod im Jahr 1937 im Exil auf Mallorca versuchte, ist noch bis zum 21. August in einer großartigen Ausstellung im Palais Liebermann am Brandenburger Tor in Berlin zu erleben. „Harry Graf Kessler - Flaneur der Moderne“ heißt die Schau, wobei „Flaneur“ etwas betulich daherkommt. Es ist nicht die erste, aber die erste vollwertige Ausstellung, die dem „roten Grafen“ gewidmet wurde, der sich 1919 von seinem aristokratischen Dünkel löste, um sich für die Demokratie von Weimar zu engagieren. Was an dem heute in alle Welt verstreuten Kunst- und Interieurbesitz Kesslers recherchierbar ist, wurde für diese Schau zusammengetragen, die zwei Etagen bespielt. Auf lange Sicht wird man diese Konstellation an Dingen nicht wieder in den Blick bekommen.
Kuratiert wurde die Ausstellung von dem Historiker Christoph Stölzl, 72, ein Mann, der mit Kessler einige Eigenschaften teilt: Kulturmanager und -politiker, Publizist und Kunsterklärer, heute Präsident der Musikhochschule Weimar und Vorsitzender des Kreises der Freunde des Bauhauses. Für Stölzl ist Kessler „ein Genie der Begeisterungsfähigkeit und vermittelnden Sympathie“, ein Mensch, der „für den positiven Möglichkeitssinn der deutschen Geschichte“ steht. Denn aus den Reihen der alten Eliten, zu denen Kessler gehörte (hartnäckig hielt sich das Gerücht, dass er ein illegitimer Sohn Kaiser Wilhelms I. sei), habe es nur wenige faszinierende Symbolfiguren gegegeben, die sich entschieden der Republik und ästhetischen Moderne verschrieben hatten. „Kessler verdiente es, eine solche zu werden.“
Die Ausstellung leistet viel dazu. Sie findet auch einen gut bereiteten Boden. Der Feuilleton-Graf war ja nicht nur ein namhafter Kulturmanager, sondern ein einzigartiger Chronist seiner Epoche. Sein Tagebuch, das kein persönliches, sondern ein gesellschaftliches Journal ist, fasst bis zu Kesslers Tod insgesamt 57 Jahre in 57 Bänden, mehr als 15 000 enggeschriebene Seiten, seit 2004 in Deutschland veröffentlicht. Seitdem schart sich um Kessler ein liberales, kunstsinniges Bürgertum, dem diese Ausstellung geschenkt wird.
Alles ist da. Die mehr als menschengroße Frauenskulptur „La Méditerranée“ (das Mittelmeer), die Kessler bei 1904 bei Maillol in Auftrag gegeben hatte. Die zwei berühmten Kessler-Porträts von Munch, den der Dargestellte malerisch wenig schätzte. Bilder aus seiner Kunstsammlung, die fotografisch geschickt erzeugte Illusion seines Weimarer Arbeitszimmers (mit eingebauten Büchern der Original-Bibliothek), mannshohe Szenen aus den Salons, die freizügigen Akt-Aquarelle von Rodin, die zur Vertreibung Kesslers aus Weimar führten. Eine Fülle für Auge und Ohr, dargeboten im Wohnhaus des Malers Max Liebermann, den Kessler oft besucht hatte. In seinen Tagebüchern finden sich die Spuren. Liebermann zu Kessler im Jahr 1894: „Munch, wissen Se, det is ooch Eener, der besser gethan hätte Schuster zu werden.“ 1908: „Der Kaiser? Na, der is doch verrückt. Zweifeln Sie daran, dass er verrückt ist?“
Im Obergeschoss sieht man die Tagebücher hinter Glas, dicht beschriebene Hefte, in denen mehr als 12 000 Personen erwähnt werden. Durch ein Vorhang-Labyrinth spaziert der Besucher durch die Inhalte, in dem er sich in inselartige Kabinette setzen kann, wo Filme zu sehen, Texte zu hören sind. Näher kann man Kessler nicht kommen.
Es gibt Stimmen, die Kesslers Wirken als ein Scheitern in Serie lesen wollen, aber das ist Unsinn. Das Engagement für die Hochkultur ist immer eines für die Überforderung. Ein steter Drahtseilakt, persönlich und politisch. Es ist doch vieles da: die Tagebücher, die Cranach-Presse, das museale und universitäre Bauhaus, Weimar, das ohne Kessler heutzutage nur eine biedermeierliche Idylle wäre. Und diese Schau, deren Katalog außerhalb der Ausstellung bereits vergriffen ist. Ein Zufall ist das nicht.
Bis 21. August: Liebermann Haus am Brandenburger Tor, Berlin. Mo-Fr 10-18 Uhr, Sa-So 11-18 Uhr, Di geschlossen (mz)