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Hamburg-Wilhelmsburg Hamburg-Wilhelmsburg: Schöne neue Welt

Von stefanie maeck 11.04.2013, 17:16
Seit der Internationalen Bauausstellung richten sich die Blicke auf Hamburg-Wilhelmsburg.
Seit der Internationalen Bauausstellung richten sich die Blicke auf Hamburg-Wilhelmsburg. Eibe Maleen Krebs Lizenz

hamburg/MZ - Inge Malunke streift die Einweghandschuhe über und zupft die Finger in Form. Die müsse sie tragen, sagt sie, weil sie nie wisse, was sie erwartet. „Aids und so.“ Sie ist Hausbetreuerin in Kirchdorf Süd, ihren richtigen Namen will sie nicht sagen. Im zwölften Stock öffnet sich die Fahrstuhltür. Einmal sei sie hier verprügelt worden, erzählt Malunke. Wer noch höher muss, geht zu Fuß weiter. Unheimlich ist das am Abend. Die Betreuerin rümpft die Nase, es stinkt nach Urin. „Wäre gut, wenn hier was passiert.“

Kirchdorf Süd im Stadtteil Wilhelmsburg, Migrantenanteil über 50 Prozent, Arbeitslosigkeit über zehn Prozent, Beschäftigungsfeld unzähliger Sozialarbeiter – und seit Ende März Austragungsort der Internationalen Bauausstellung. Die Mieter mit den Satellitenschüsseln im Hochhaus werden einen der Logenplätze haben. Doch die interessiert das wenig.

Wilhelmsburg liegt als Insel in der Elbe, südlich der Innenstadt, es ist Hamburgs flächenmäßig größter Stadtteil. Der Hauptbahnhof ist nur acht S-Bahn-Minuten entfernt, doch für die Hamburger ist Wilhelmsburg wie durch eine psychologische Grenze, die Elbbrücken, von ihrer Welt getrennt.

Die Geschichte mit der Bauausstellung beginnt vor 13 Jahren, an einem Sommertag. Die Kampfhunde Gipsy und Zeus gehen in Wilhelmsburg spazieren. Sie müssten eine Leine tragen, aber der Besitzer lacht darüber nur. Heimlich, so stellt sich später heraus, macht er sie sogar auf dem Spielplatz scharf, plötzlich springen sie über den Zaun einer Schule, rennen auf den sechsjährigen Volkan zu, werfen ihn zu Boden und zerfleischen ihn. Danach ist Wilhelmsburgs Image endgültig ruiniert. Der Stadtteil verfällt in Schockstarre, der Rest von Hamburg in Empörung. Die „Zukunftskonferenz Elbinsel“ wird einberufen - und beschließt, Wilhelmsburg zum Austragungsort der Internationalen Gartenschau und Internationalen Bauausstellung (IBA) zu machen. Die IBA, eine Tochter der Stadt, entdeckt die Potenziale des Viertels: das Elbwasser, irgendwie ist es maritim.

Ein paar Schritte von Inge Malunkes Hochhaus entfernt liegt die Haltestelle der „Wilden 13“. In 27 Minuten fährt der Bus einmal quer durch Wilhelmsburg. Keine andere Linie eignet sich so gut, die Umbrüche zu besichtigen, die der Stadtteil derzeit durchmacht.

Kerstin Schaefer, 33, ist Kulturanthropologin. Sie betrachtet die Fahrgäste der Linie 13 mit zusammengekniffenen Augen. Den Beobachterblick kann sie nicht mehr abschalten, seit sie über den Bus in ihrer Magisterarbeit schrieb und ihn als Spiegel des Stadtteils begriff, 173 Seiten, Note 1,0. Vor sechs Jahren zog sie mit ihrem Freund in eine alte Farbenfabrik in Wilhelmsburg, dem Paar gefiel der raue Charme des Stadtteils.

Nun macht die Bauausstellung Wilhelmsburg über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. 90 Millionen Euro sind aus einem Sonderprogramm der Stadt Hamburg in das Viertel geflossen. Stadtplaner, Architekten, PR-Leute, alle fuhren sie plötzlich mit der Wilden 13 und saßen neben Aktivisten, die gegen die IBA waren. Die Neuen waren leicht zu erkennen, sagt Schaefer: „An ihren Taschen und den coolen Brillen.“ Mittlerweile dreht sie einen Dokumentarfilm über ihren Stadtteil: „Wir wollen damit unsere Sicht auf Wilhelmsburg festhalten, nicht nur die der IBA.“ Der Film wird eine Liebeserklärung an den Stadtteil, in dem man nachts im Bus noch uralte, weißbärtige Kapitäne in Uniform treffen kann oder den Busfahrer Kofi aus Ghana, der um Mitternacht zum Wachbleiben an den Haltestangen turnt. Wer weiß, vielleicht wird es dieses Wilhelmsburg nicht mehr lange geben. Eine Sorge, die hier viele haben. Vor allem im studentischen Reiherstiegviertel, unweit der Hochhäuser, haben die Lokale gewechselt, es gibt jetzt Cafés mit schicken Lampen, einen Portugiesen und einen Italiener. Und es gibt Initiativen wie den „Arbeitskreis Umstrukturierung Wilhelmsburg“, der den IBA-Prozess kritisch sieht. Seine Mitglieder wollen „kein Bonzenviertel“, sie sind genervt von der PR-Maschinerie und den Bürgerbeteiligungsgremien der IBA, in deren Sprachgebrauch die Probleme der ethnisch gemischten Bevölkerung nur noch ins Positive gewendet vorkommen: Wilhelmsburg ist jetzt „das Weltquartier“.

Vermutlich hat es den Aktivisten auch nicht besonders gefallen, dass der Regisseur Fatih Akin seinen Film „Soul Kitchen“ in einer Wilhelmsburger Industriehalle gedreht hat. Plötzlich entstand nämlich noch vor Eröffnung der Bauausstellung ein romantischer Mythos um Wilhelmsburg, effektiver als ihn jede IBA-Kampagne hätte erklügeln können. Die Hamburger, die Akins Film gesehen hatten, fuhren plötzlich zum Tanzen auf die andere Elbseite, Wilhelmsburgs Aufstieg begann.

Die Wilde 13 rumpelt inzwischen an der „Neuen Mitte“ vorbei. So nennt die IBA das „Schaufenster“ ihrer Bauausstellung. Schaefer zeigt auf ein buntes Haus mit futuristisch geschwungenen Linien, in das die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt einziehen wird. Gegenüber wachsen „Smart Price Houses“, die zeigen sollen, wie Stadthäuser für wenig Geld gebaut werden können.

Die Bauausstellung präsentiert clevere Material- und Energiekonzepte, gestaltet urbane Räume neu. Dazu gesellt sich bald ein riesiger Park: Die internationale Gartenschau wird Ende des Monats eröffnet, auch wenn der lange Frost so manches verzögert hat. Neuerdings kann man vom Jungfernstieg sogar per Barkasse zur Bauausstellung schippern.

Die Älteren freuen sich, dass das Ansehen von Wilhelmsburg verbessert wird, sie sind stolz darauf, dass die Welt für ein Jahr auf ihr Quartier schaut. Im Laufe der Präsentation werden 2,5 Millionen Besucher erwartet und 1 000 neue Wohnungen von namhaften Architekturbüros gebaut. Experten schätzen, dass die Bevölkerung des Viertels in den nächsten zehn Jahren von 50 000 auf 60 000 anwachsen könnte.

Inge Malunke, die Hausbetreuerin, hat die Handschuhe abgestreift, sie macht gerade Feierabend. Ob sich die IBA-Gäste je in eins der Hochhäuser verirren werden, die Malunke betreut? Von oben gäbe es den besten Blick.