"Günther Jauch" nach "Polizeiruf 110" "Günther Jauch" nach "Polizeiruf 110": Jauch sucht nach Erklärungen für das Unerklärliche
Berlin - Natürlich hätte man sich angenehmere Themen vorstellen können, wenn das Erste schon einen Themen-Abend gestaltet, an dem es in Günther Jauchs Talkshow um dasselbe geht wie zuvor im Sonntagskrimi. Und natürlich hätte es auch politischere Fragen gegeben, die eine als Polittalk bekannte Sendung verhandeln kann. Laut den Reaktionen im Internet hätten sich das viele Zuschauer gewünscht.
Doch sei es tatsächlich mit Blick auf die Quote – wie einige davon unterstellten – oder weil die politischen Aufreger der Woche, etwa um die Rot-Rot-Grün-Skepsis des Bundespräsidenten, noch zu frisch oder, wie die Hooligan-Randale in Köln, schon zu abgehangen waren: Jauchs Redaktion entschied sich für das Thema Kindsmord.
„Familiendrama – Wenn Eltern sich und ihre Kinder töten.“ Schon der Sendungstitel verursacht einen Kloß im Hals, aber im Anschluss an den verstörenden „Polizeiruf“ aus Rostock war die Reihung regelrecht bedrückend. Von Alters her gilt der Kindsmord als besonders abscheuliches Verbrechen, weil es ja regelrecht gegen die Natur geht, jedenfalls gegen die Vorstellung davon: Seine Liebsten zu töten? Unbegreiflich. Verstörend. Man will den Gedanken verdrängen, dass Mütter und Väter dazu fähig sind. Sollte der Zuschauer gar an die Hand genommen werden, weil Darüber-Reden ja immer gut tut?
Schmaler Grat zum Voyeurismus
Sicher sind Väter, die ihre Kinder und danach sich selbst umbringen, kein „Massenphänomen“, wie Jauch den Übergang vom Krimi zu seinem ersten Gast ungelenk moderiert. Erst viel später erfährt man die Zahl: Zehn bis 20 Fälle solcher „Familientragödien“ gibt es pro Jahr in Deutschland. Andererseits, auch dass deutsche Muslime zu Salafisten werden oder Frauen ihre Eizellen für die Karriere einfrieren lassen sind keine Massenphänomene – als Jauch darüber sprach, wurde die Themenwahl nicht annähernd so oft infrage gestellt. Berechtigt ist allerdings ein ungutes Gefühl: Der Grat zum Voyeurismus blieb schmal.
Dass die Sendung ihn aber gerade dann nicht überschreitet, als Jauch mit einer Betroffenen sprach, lag an der beeindruckend gefassten, reflektierten Frau selbst. Doreen Salomon, 41, erzählt, wie sie vor sieben Jahren ihren Mann und Sohn nebeneinander im Ehebett fand, beide tot – vergiftet durch Infusionen, die der Kindsvater dem Fünfjährigen und sich selbst gelegt hatte. Bis heute kann sie nicht wieder in ihrem Beruf als Krankenschwester arbeiten. Jauch fragt nach dem Motiv, Salomon antwortet ruhig: Er wollte mich bestrafen. Und psychisch zerstören. Hinter der Fassade der glücklichen Familie gab es immer wieder Streit, der Mann war cholerisch und ich-fixiert.
Wer letztlich zum Täter wird, bleibt unerklärlich
Die Kraft, die sich die Frau mühsam zurückerobert hat, macht sprachlos. Neue Erkenntnisse über die Motive hinter „erweiterten“ Suiziden oder Morden, wie Juristen die Taten nennen, bringt das Gespräch aber nicht. Wer sich mit Familiendramen, die in den Medien ja stets großen Niederschlag finden, beschäftigt hat, kennt die Erklärungsmuster, die bei Jauch Psychiaterin Heidi Kastner referiert: Männer neigen eher zu Egozentrik und dazu, die Familie als Besitz zu sehen. Verlässt sie die Frau, kränkt das ihre Eitelkeit, weckt Rachegelüste, die auf die völlige Zerstörung des entzogenen Eigentums zielen. Männer greifen eher zu „erweitertem Mord“, töten Kinder und Frau, womöglich weitere Unbeteiligte. Frauen dagegen, erfährt der Zuschauer, neigen eher zu „erweitertem Suizid“: töten die Kinder, dann sich selbst – aber eher im Gefühl einer gemeinsamen Flucht.
Wann die Täter und Täterinnen aber tatsächlich diesen grausamen Weg gehen, bleibt unerklärlich. Die eingeladene „Zeit“-Redakteurin, die vor einem guten Jahr einen preisgekrönten Text über einen anderen Einzelfall schrieb, mochte nicht verallgemeinern. Der Ex-Chef einer Mordkommission, Axel Petermann, der inzwischen die „Tatort“-Macher berät, verallgemeinerte immerhin so weit, dass er den gerade gezeigten Film als typischen Fall erklärte: Scheitern im Job, Minderwertigkeits- und Ohnmachtsgefühle, instabile Partnerschaften. Bricht alles zusammen und damit die vermeintlich „perfekte Scheinwelt“, kollabiert auch die Psyche der Täter.
Schauspieler als Experten?!
Wofür soll Andreas Schmidt, der gerade im „Polizeiruf“ den Täter überzeugend als fiebrigen, labilen Scheiternden gespielt hatte, also plädieren – wenn nicht für Vorbeugung und Therapie? Dass Schmidt als Gast geladen war, rief dann – nach beachtlicher Abwesenheit aufgrund des Themas – doch wieder die wöchentliche Häme in den sozialen Netzwerken hervor. Dabei sind sowohl „eingearbeitete Laien“, als auch die thematische Weiterführung zuvor gezeigter Spielfilme seit Jahren Standard in den öffentlich-rechtlichen Talkrunden. Schmidt macht es seinen Kritikern allerdings auch leicht, als er über die Seelenlage der Täter spekuliert und fast als Anwalt seiner Figur auftritt. Psychologin Heidi Kastner plädiert da lieber schnell dafür, diesen tendenziell „jammrigen Typen“ nicht allzu viel Verständnis entgegenzubringen.
So mag man es am Ende, was die Relevanz der Sendung angeht, so sehen, wie die sarkastischen Twitter-User, die Jauch einen neuen Schritt zu Boulevard und Voyeurismus bescheinigen.
Man kann aber auch ins Online-Forum auf der Sendungshomepage sehen – und dort mehrere Einträge von Angehörigen, Freunden und sogar Hinterbliebenen finden, die Ähnliches durchgemacht haben wie Doreen Salomon. Sie lebe seit neun Jahren in dem Bewusstsein, am Tod ihrer siebenjährigen Tochter schuld zu sein, die ebenfalls vom Vater umgebracht wurde, schreibt etwa eine Userin kurz vor 23 Uhr. Die heutige Sendung habe ihr geholfen, einen Teil der Schuld abzuwerfen, erklärt sie. „Ich danke Herrn Jauch und den Gästen für diese Sendung.“