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Günther Anders Günther Anders: Zivilisationskritiker und Moralist

Von Irmgard Schmidmaier 11.07.2002, 15:55

Wien/dpa. - Mitseinem Hauptwerk «Die Antiquiertheit des Menschen» ist er zu einemder wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts geworden. Am Freitag (12.Juli) wäre Günther Anders 100 Jahre alt geworden.

Atomkraft, Technik- und Zivilisationskritik, Totalitarismus - invielen Aspekten erscheint Anders' Hauptschrift, deren erster Band1956 erschien, heute prophetisch. In persönlicher Sorge um denZustand des Menschlichen kreiste er in seiner radikalen Analyse desMenschen im Atomzeitalter um die drei Hauptthesen: «Dass wir derPerfektion unserer Produkte nicht gewachsen sind; dass wir mehrherstellen als vorstellen und verantworten können; und dass wirglauben, das, was wir können, auch zu dürfen». Wurde ihm zu seinerZeit Kulturpessimismus und Nihilismus vorgeworfen, so fordern heuteKollegen wie der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann die«Wiederentdeckung» des unorthodoxen Denkers.

Auch in den Anliegen der Globalisierungsgegner und in heutigerMedienkritik findet sich vieles, was Anders vor fast 50 Jahrenvorweggenommen hat. Für ihn gehörte das Fernsehen zu jenenTechnologien, die den Menschen längst überholt haben. Besorgt vonjenem Auseinanderklaffen zwischen technischem Vermögen undErkenntnisfähigkeit, das in seinen Augen die Gegenwartcharakterisiert, hält er fest, dass «sich die Leistungen unsererHerzen: unsere Hemmungen, unsere Ängste, unsere Vorsorge, unsere Reueim umgekehrten Verhältnis zum Ausmaß unserer Taten entwickeln».

Die Menschen im Atomzeitalter sind in seinen Augen «dieinhumansten Wesen, die es je gegeben hat». Als unerbittlicherMoralist erhebt er neben dem intellektuell-technologischen Vermögendes Menschen dessen Empfindungen zum Maßstab. Für Anders liegt «dieheute entscheidende moralische Aufgabe in der Ausbildung dermoralischen Phantasie» als einzige Möglichkeit, das Gefälle zwischenZerstörungspotential und Fühlen auszugleichen.

Anders entwickelte seine philosophischen Positionen aus demeigenen Erleben, seine Forderungen aus vehement humanistischerÜberzeugung. Er wurde am 12. Juli 1902 in Breslau als Sohn desjüdischen Psychologenpaares Clara und William Stern geboren, die mitder Schrift «Psychologie der frühen Kindheit» ein Standardwerkverfasst haben. Der junge Günther Stern, der sich als Journalist dasPseudonym Anders zulegt, erkennt früh die Bedrohung durch Hitler undbeschreibt sie in seinem Roman «die molussische Katakombe». 1933flieht er nach Paris und emigriert 1936 nach Amerika, wo er sich alsFabrikarbeiter durchschlägt.

Neben der Erfahrung des Holocaust, die ihn zum radikalenAntifaschisten und antitotalitären Denker macht, wird der Abwurf derAtombombe über Hiroshima und Nagasaki zum zweiten Schlüsselerlebnis.Weit abseits vom Elfenbeinturm wollte er seine Schriften alsKampfschriften verstanden wissen und forderte den amerikanischenPräsidenten Kennedy ebenso zum offenen Streit wie den Atombomben-Piloten Claude Etherly.

1950 nach Europa zurückgekehrt, war er stets dort aktiv undpräsent, wo ihm Parteinahme notwendig schien. Er wurde zurmoralischen Instanz und zum Vordenker der Anti-Atom-Bewegung, saß inder Jury des «Russell-Tibunals» gegen den Vietnamkrieg und gehörteder Jury auch an, als 1978 über die Verwirklichung der Menschenrechtein der damaligen Bundesrepublik Deutschland befunden wurde.

Nach der gescheiterten Ehe mit Hannah Arendt heiratete er inseiner neuen Heimat Wien die Journalistin und SchriftstellerinElisabeth Freundlich. Neben seinen philosophischen Schriftenverfasste Anders zahlreiche Erzählungen, Fabeln und Lyrik. InTagebuchaufzeichnungen schildert er unter anderem Begegnungen undGespräche mit Bert Brecht, Theodor W. Adorno. Am 17. Dezember 1992starb Günther Anders in einem Pflegeheim in Wien an Herzversagen.