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Günter Grass Günter Grass: Der Dichter geht durch Danzig

Von Christian Eger 15.10.2007, 19:26

Gdansk/MZ. - Die Markus-Episode führt mitten hinein in den Erzählraum des Günter Grass. Da ist das "Es war einmal", der märchenhafte Imperfekt. Der gesellschaftliche Bruch, an dessen Erfahrung sich der Literaturnobelpreisträger von 1999 abarbeitet bis heute. Danzig ist da und das Beschwören der Kindheit, die Grass als Erzähler nie verlassen hat. Abgesehen davon, ist das Markus-Zitat ein typischer Grass-Satz: Eine Formel, die ihren Sound hat, Körperlichkeit und Suggestivität.

Zwei Zimmer, kein Bad

Wer Grass begreifen will, muss an den Ort seiner Kindheit reisen. Der Sohn eines rheinisch-protestantischen Lebensmittelhändlers und seiner kaschubisch-katholischen Ehefrau wuchs in Langfuhr auf, einem Vorort von Danzig. Langfuhr heißt heute Wrzeszcz und sieht in seinem unzerstörten Kern so aus, als läge die Grass-Kindheit erst zwanzig Jahre zurück. Die Straßen grau und schmal wie die Katzen darauf. Kleine Geschäfte, proletarisches Milieu. Mietshäuser, vier und fünf Stockwerke hoch, Gründerzeitdekor an den Eckbauten.

Das Wohnhaus der Familie Grass liegt grau verputzt in der Lelevela, dem alten Labesweg. Nummer 13, Erdgeschoss: die hölzerne Haustür wurde erneuert, sonst ist alles, wie es wohl immer war. Unterm Fassadenbogen das ehemalige Schaufenster des Geschäfts, rechts die Fenster zum Wohnzimmer, in dem Grass und seine drei Jahre jüngere Schwester Waltraud hausten. Zwei Zimmer, Küche, Flur, Toilette halbe Treppe. Eine Hinterhoflandschaft aus Garagen, Pfützen, Gemüsebeeten. Kein Ort zum Fotografieren. "Kleinbürgerlicher Mief", schrieb Grass. Aus dem kommt er her. Von hier aus lassen sich die Ästhetik und Weltsicht des Künstlers erklären, der nach einer Steinmetzlehre und einem Bildhauerei-Studium in Düsseldorf das Schreiben begann, um 1959 mit der "Blechtrommel" einen Sensationserfolg zu liefern.

Seitdem hat Grass nicht mehr aufgehört über Danzig zu schreiben, von "Katz und Maus" an über "Hundejahre" und "Der Butt" bis zuletzt "Beim Häuten der Zwiebel", recht eigentlich schreibt Grass an einem einzigen 50er-Jahre-Fortsetzungsroman. Langfuhr spielt immer mit: als Ort oder Erinnerung, Farbton, Geruch und Klang. Das bis ins Weltanschauliche prägende proletarisch-kleinbürgerliche Durcheinander, das den Hang zu allem Sinnfälligen fördernde Ladengeschäft. Grassens Belletristik ließe sich im guten Sinn als Gemischtwarenladenprosa beschreiben. Dinglich, plastisch, farbig. Die Sätze von Begriffen und Metaphern so übervoll wie die Ladenregale der Grass-Eltern. Keine analytische, sondern beschreibende Prosa aus der Feder eines Autors, der ein Künstler und als Künstler ein Handwerker, aber kein klassischer Intellektueller ist.

Sein Roman-Inventar wirkt wie geradewegs aus Danzig-Langfuhr abgezogen: Hund, Katz und Maus, Unke und Rättin. Auch der Ehrgeiz und Geltungsdrang dieses Autors, der in allem Geistigen ein Autodidakt blieb, lässt sich nicht allein aus einem merkwürdigen Naturell, sondern auch von der Danziger sozialen Randlage her erklären. Aber eben auch die Fähigkeit zur Solidarität, das zuverlässig Nichtangepasste seiner Person. Grass, was viel zu wenig erinnert wird, gehörte zu den wenigen westdeutschen Autoren, die der DDR und deren Literatursystem nicht zuarbeiteten. Er setzte sich für Inhaftierte ein, bot in den Westen abgeschobenen Kollegen eine Unterkunft. Ostberlin ging dieser demokratische Sozialist nicht auf den ideologischen Leim. Auch nicht, wie einige seiner Kollegen, den polnischen Kommunisten. Grass unterstützte die aufständischen Arbeiter in Gdansk, deren Geschichte er im "Butt" notierte. Die Anerkennung der Oder-Neiße- als polnische Westgrenze forderte Grass 1965, da war die SPD noch lange nicht so weit.

"Und du bist schuld"

Dieses Unangepasste lässt sich vor allem in der "Blechtrommel" erfahren, ein grundschwarzes, auch böses Buch, mit dem kein Staat zu machen ist. Und keine Pädagogik. "Du bist schuld und du bist schuld und du am allermeisten", ruft die Schwarze Köchin den Kindern in Langfuhr nach, die ihren Weg durch die NS-Organisationen nahmen. Keine glatt optimistische Antifa-Prosa. "Ich gehe davon aus", erklärte Grass in den 70er Jahren, "dass ein Schriftsteller von Buch zu Buch die Summe seiner Figuren ist, inklusive die SS-Männer, die darin vorkommen; und er muss diese Figuren, ob er will oder nicht, auf literarische (...) Art lieben können."

Dass Grass sich hiermit selbst auch gemeint haben kann, wissen wir heute. Dabei ist nicht die Tatsache, dass Grass - wie er sagt: nicht freiwillig - als 17-Jähriger drei Monate als Soldat der Waffen-SS diente, das Erregende. Sondern, dass diese für die Identität eines nachkriegsdeutschen Schriftstellers so wichtige biografische Tatsache über 60 Jahre keinen Ort in seinem Werk finden sollte. Es sei denn umschrieben oder verschlüsselt. Im Unvermögen zum Klartext und zur Reflexion zeigt sich auch ein persönlicher Mangel, den man nicht mit Triumph zur Kenntnis nimmt.

Für Grass, der heute 80 wird, schließen sich die Kreise. Sein Besuch in Gdansk vor zwei Wochen war kein Festumzug, sondern ein stiller, melancholisch grundierter Gang durch die Stadt. Das Volk lief ihm nicht hinterher. Und genau das passte bestens zu Grass und seinem großen dunklen Werk.