Günter Grass Günter Grass: Der aus dem Osten

halle (Saale) - Im März 2006 macht das Gerücht die Runde, dass die Bundeskulturstiftung von Halle weg nach Berlin verschwinden könnte. Nach vier Jahren Dienst im Osten, raus aus der Stadt, in die sie Günter Grass getragen hatte. Denn der Schriftsteller war es gewesen, der 1973 in einem Brief an Willy Brandt die Gründung einer solchen Institution empfohlen hatte, die er 2002 mit einer Festrede im Freylinghausensaal der Franckeschen Stiftungen aus der Taufe hob.
Das alles scheint im Frühjahr 2006 nicht mehr der Rede wert. Schnee von gestern, der vom Hof gekehrt werden kann. Ein Interview mit Grass, das wäre die richtige Antwort. Aber wie? Der Schriftsteller steckt kopfüber in den Korrekturbögen seines später skandalträchtigen Erinnerungsbuches „Beim Häuten der Zwiebel“. Es genügt, gegenüber der Sekretärin von Grass zu erwähnen, dass die sozialdemokratische Oberbürgermeisterin von Halle, Ingrid Häußler, in Sorge sei, dass die Stadt die Stiftung verlieren könne. Halle? In Sorge? Sofort ruft das Büro zurück. Auf Grass ist Verlass. Auch wenn er die Zeit nicht habe, würde er sie sich nehmen, man müsse aber bei ihm persönlich vorbeikommen. Nicht in Lübeck, sondern in seinem Wohnhaus in Behlendorf, einem Nest im Lauenburgischen. Schon rattert über das Faxgerät eine Skizze herein, die den Flecken samt Grass-Haus pfadfindertauglich mit Pfeilen verortet.
Norddeutsche, malerische Landschaft. Die Bäume schräg vom Wind, die Häuser fast unsichtbar ins Grün hineingehockt. Endlose Wiesen, vom Elbe-Lübeck-Kanal durchzogen. Das muss die Ebene sein, in der zuverlässig Grass-Besucher verloren gehen. Nach langem Suchen taucht ein weißes, grau gedecktes Haus samt Nebengebäude auf. Davor, im Freien, steht ein einzelner Mann und wartet. Grass bittet in sein Atelier, hat Feuer und Pfeife zur Hand, und bietet Tee an. Zugewandt, herzlich, völlig ungezwungen. Verblüffend.
Zu Halle sagt Grass, was zu sagen ist. Spricht vom historischen Mitteldeutschland und vom neuen Nachwende-Osten, von Herders Begriff der Kulturnation, die keine politischen Grenze kenne, und der halleschen Aufklärung, die zum Besten gehöre, was Deutschland zu bieten habe. Sagt, dass die Einheit das Papier nicht wert sei, auf dem sie 1990 vollzogen wurde, wenn die Stiftung jetzt aus Halle verschwinden würde. Zwischendrin verschwindet Grass. Man könne sich überall umsehen, sagt er. Überall? Ja. Unter der berühmten, 1799 von Goya gefertigten Radierung „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ steht ein Pult, auf dem aufgeschlagen das Tagebuch des Schriftstellers liegt.
Man muss das alles erwähnen, weil Grass in dem Bild, das ihn als notorischen Bescheidwisser und Rechthaber zeigt, nicht aufging. Seine von Thomas Mann übernommene Rolle des deutschen Repräsentanten und moralischen Gewissens füllte Grass zwar mit großer Leidenschaft aus, aber er konnte sie auch jederzeit abstreifen. Zum Vorschein kam dann ein anarchischer Künstler und im Umgang ein eher leiser und lässiger Mitmensch. Einer, der als Schriftsteller - und durchaus auch als Grafiker und Bildhauer - immer das Randständige im Blick hatte: Den Osten, aus dem er stammte, und dem er in seinen verschiedensten kulturellen und politischen Ausprägungen die Treue hielt, einer Sphäre, zu der die deutsch-schlesischen Barockdichter genauso gehörten wie die polnische Gewerkschaft Solidarnosc. All die eigenwilligen, aus der Gesellschaft gefallenen Gestalten, die er beschrieb, wie den Blechtrommler Oskar Matzerath, der als Dreijähriger beschloss, das Wachsen einzustellen.
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Wer Grass begreifen will, muss an den Ort seiner Kindheit reisen, dorthin, wo er 1927 geboren wurde. Der Sohn eines rheinisch-protestantischen Lebensmittelhändlers und seiner kaschubisch-katholischen Ehefrau wuchs in Langfuhr auf, einem Vorort von Danzig, der heute Wrzeszcz heißt. Dort steht das Geburtshaus von Grass, Lelevela 13, der ehemalige Labesweg. Der Vater betrieb hier seinen Laden. „Kleinbürgerlicher Mief“, schrieb Grass. Von hier aus lassen sich die Ästhetik und Weltsicht des Künstlers erklären, der nach einer Steinmetzlehre und einem Bildhauerei-Studium in Düsseldorf das Schreiben begann, um 1959 mit der „Blechtrommel“ einen Sensationserfolg zu liefern.
Ein Roman wie ein Faustschlag, der - bei allem Manierismus und teilweisen Leerlauf - noch immer das Naturgewaltige spüren lässt, das die Literaturwelt erschreckte; in der DDR übrigens so sehr, dass das Buch erst 1986 erscheinen konnte. Anders als die staatsbürgerkundlich wertvolle Prosa, die Grass nach seiner SPD-Bekehrung 1963 in die Welt trug, ist „Die Blechtrommel“ ein grundschwarzes, böses, keinem weltanschaulichen Optimismus verpflichtetes Werk. Ein Buch über die Schuld und wie man sie sich vom Leibe hält, was nach 1933 massenhaft geschah. Auch bei Grass, der in den 1970er Jahren mit Blick auf den Kollegen Alfred Andersch - und nicht etwa auf sich selbst - notierte: „Ich gehe davon aus, dass ein Schriftsteller von Buch zu Buch die Summe seiner Figuren ist, inklusive die SS-Männer, die darin vorkommen.“ In der „Blechtrommel“ ist für alles Nichterzählte das Schreckgespenst der Schwarzen Köchin zuständig, die wahllos den Figuren nachruft: „Du bist schuld und du bist schuld und du am allermeisten“.
Mit ihm verlieren wir einen der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsgeschichte und einen engagierten Autor und Kämpfer für Demokratie und Frieden.
Wir haben uns nicht mit demselben Thema beschäftigt, aber wir waren Freunde und haben uns gegenseitig geschätzt.
Günter Grass ist gestorben. Das ist eine traurige Nachricht. Sein lit.Werk ist unsterblich. Die Blechtrommel war mein erstes wichtiges Buch.
Traurig, dass Günter Grass gestorben ist. Werde ihn als streitbaren und für Deutschland wertvollen Autoren in Erinnerung behalten.
Literaturnobelpreisträger, großer Autor, kritischer Geist. Ein Zeitgenosse mit dem Anspruch, verquer zum Zeitgeist zu liegen. #Grass
Mit Günter Grass hat uns ein großer Schriftsteller verlassen. Unsere Gedanken sind bei seinen Freunden & Angehörigen.
Günter #Grass war ein streitbarer Intellektueller - sein literarisches Werk bleibt überragend.
Mit Günter Grass ist einer der größten und zugleich streitbarsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsgeschichte von uns gegangen. Mit seinem breiten kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Engagement hat er die bundesrepublikanische Geschichte über viele Jahre mitgeprägt. Der freiheitliche Geist der Bundesrepublik wurde auch durch Intellektuelle wie Günter Grass mit Leben gefüllt.(...)
Günter #Grass - ein großer und streitbarer Literat geht. Gerne erinnere ich mich an Gespräche mit ihm. #Traurig
"Der Schriftsteller als Zeitgenosse, wie ich ihn meine, wird immer verquer zum Zeitgeist liegen." Wir trauern um Günter #Grass.
Mit Günter Grass verliert die Welt der Literatur einen wortmächtigen Autor und unsere Republik einen ihrer streitbarsten Mitbürger. Wenn er die Demokratie in Gefahr sah, ging er keiner notwendigen Auseinandersetzung aus dem Wege.
Gott kann sich jetzt einiges anhören. #Grass
In diesem Buch, für das Grass im Jahr 2000 der Literaturnobelpreis erhielt, zeigt sich der Schriftsteller ganz: in seiner auftrumpfenden Kunstfertigkeit, seiner suggestiven Rhetorik und sinnfälligen Ding-Malerei. Von Anfang an ist Grass ein mehr beschreibender als analytischer oder „intellektueller“ Autor, und dabei ist es geblieben. Im Grunde hat Grass in Varianten stets dasselbe Buch geschrieben. Dessen Titelgestalten wirken wie aus Danzig-Langfuhr eingeführt: „Hundejahre“, „Katz und Maus“, „Unkenrufe“ und „Die Rättin“.
Immer bleibt Grass der aus dem Osten. Der DDR zeigt er - bei aller Gesprächsbereitschaft - eine klare Kante. Er setzt sich für Inhaftierte ein, bietet in den Westen abgeschobenen Kollegen eine Unterkunft. Unvergessen bleibt sein Auftritt in der halleschen Marktkirche im April 1988. Rund 750 Zuhörer zählte der Geheimdienst damals.
Der Umstand, dass Günter Grass erst als 79-Jähriger - und sechs Jahre nach dem Nobelpreis - die Kraft fand, öffentlich mitzuteilen, dass er als 17-Jähriger zur Waffen-SS einberufen wurde, hat seinem Ansehen weithin geschadet - und die Tatsache, die er mitzuteilen hatte, auf eine Weise überhöht, die ihr nicht zukommt. Grass, der von anderen schonungslose historische Wahrhaftigkeit verlangte, wird hier schonungslos gemessen. Seinem Werk, das 2006 längst vollendet war, hat es nicht geschadet. Einem üppigen, wilden, in seinen besten Partien keinesfalls politisch korrekten Werk, das jenen freiheitlichen, kulturell geprägten Begriff von „Deutschland“ pflegt, für den die frühen Demokraten stritten. Wer Günter Grass noch vor wenigen Wochen auf der Buchmesse in Leipzig erlebt hat, konnte meinen, dass das mit ihm und seinen Auftritten noch über Jahre weiter laufen könnte. Ein Irrtum, wie wir seit gestern wissen. In einer Lübecker Klinik ist Günter Grass im Zuge einer Infektion im Alter von 87 Jahren gestorben.