Gründerin der "Sibylle" tot Gründerin der Sibylle tot: Sibylle Gerstner erfand DDR-Freunzeitschrift
halle - Sibylle Gerstner war die populärste Unbekannte der DDR. Populär, weil ihr Vorname in vieler Munde war.
Unbekannt, weil mit der Kenntnis des Vornamens das öffentliche Wissen auch schon aufhörte. Bis 1989 hielt sich die Journalistin und Künstlerin als Zeitgenossin sehr bedeckt. Bis zum Ende der DDR gibt es kaum öffentlich verfügbare Fotos von ihr.
Dieser Rückzug wurde durch die DDR-Verhältnisse begünstigt, wenn man denn eine Gunst darin entdecken will, dass ein Mensch, der alle Voraussetzungen zur gelingenden öffentlichen Wirksamkeit hat, unsichtbar bleibt. Hätte sich das Leben der Sibylle Gerstner nach 1945 im Westen entfaltet, wäre sie eine Berühmtheit geworden.
Nicht zuletzt als Kopf einer „öffentlichen“ Familie. Zur offiziellen DDR-Elite gehörte die Künstlerin als Ehefrau des BZ-Chefreporters und TV-Wirtschaftsjournalisten Karl-Heinz Gerstner („Sachlich, kritisch, optimistisch“) ohnehin. Ihre Tochter ist die Autorin Daniela Dahn, eine der wenigen im Westen wahrgenommenen Ost-Stimmen.
Gründerin der Frauenzeitschrift „Sibylle": Filmreife Momente im Leben von Sibylle Boden-Gerstner
Ein Leben mit filmreifen Momenten: 1920 in Breslau als Tochter des deutsch-jüdischen Pelzhändlers Moritz Boden geboren, hatte Sibylle Gerstner noch dem Kronprinzen Wilhelm die Hand geschüttelt. 1932 sah sie Hitler vor der Jahrhunderthalle ihrer Heimstadt, 1936 plauderte sie mit dem Spitzensportler Jesse Owens während der Olympischen Spiele in Berlin.
Sie studierte Modegestaltung in Berlin und Malerei in Wien, bis die Deutschen 1938 in Österreich einmarschierten. 1939 lernte sie den acht Jahre älteren Juristen Karl-Heinz Gerstner kennen, der an der deutschen Botschaft in Paris tätig war.
1940 holte Gerstner die junge Frau nach Paris, wo sie bis 1944 lebte. Nach Kriegsende heiratete das Paar in Berlin. Der vormalige NSDAP-Mann Gerstner setzte auf die SED, der er 1955 beitrat. Die Familie lebte in Kleinmachnow.
Sibylle Gerstner arbeitete als Kostümbildnerin für die Defa, unter anderem lieferte sie die Entwürfe für „Die Geschichte vom kleinen Muck“. 1956 wechselte sie das Fach. Im siebenten Jahr der DDR musste ein Modeblatt für die Frau her. Sibylle Gerstner erfand es. Nicht einfach ein Schnittmusterheft, sondern eine „Zeitschrift für Mode und Kultur“, die versprach ihre „Augen überall“ zu haben: „in Prag und Florenz, in Warschau und Wien, in Moskau und New York...“ Das ging gut bis 1962. Dann wird Sibylle Gerstner aus der Redaktion gedrängt. Zu westlich, zu verspielt.
Sibylle Boden-Gerstner: Nach der Zeit bei der Zeitschrift „Sibylle“ schrieb sie ein Buch
Noch einmal schrieb Gerstner Geschichte. Unter dem Namen Sibylle Muthesius veröffentlichte sie das Buch „Flucht in die Wolken“, die Geschichte ihrer 1952 geborenen Tochter Sonja, die sich 1971 das Leben nahm. Mit Auszügen aus Tagebüchern und Briefen erzählte Gerstner die Geschichte ihres seelisch kranken Kindes.
Das auch im Westen veröffentlichte Psychiatrie-kritische Buch war im Osten ein Geheimtipp, es wurde überall gelesen. Eine öffentliche Person wurde Sibylle Gerstner erst nach dem Ende der DDR, aber ohne größere Kreise zu erreichen.
Sie stellte ihre Gemälde, Zeichnungen und Kostümentwürfe aus. Sie sprach über die Gründung der „Sibylle“, die von Jahr zu Jahr kulturhistorisch interessanter zu werden scheint. Noch bis April läuft eine
Sibylle-Ausstellung in Rostock. Die wird ohne ihren Besuch vorübergehen. Wie die Kunsthalle Rostock mitteilt, ist Sibylle Gerstner am Weihnachtssonntag im Alter von 96 Jahren gestorben. (mz)
