Grausiges Jubiläum Grausiges Jubiläum : Das Massaker auf der "Medusa"

Halle (Saale) - Die erfahrenen Seeleute ahnen im Voraus, dass es so kommt: Bei bestem Wetter und seichter See läuft die Fregatte „Medusa“ am 2. Juli des Jahres 1816 vor der afrikanischen Küste auf Grund. Doch was dann folgt, kann sich niemand an Bord auch nur im Entferntesten vorstellen. Es ist eine Seetragödie, die in der Geschichte nicht ihresgleichen hat - zu erahnen auf dem berühmten Bild des französischen Künstlers Théodore Géricault, den die Ereignisse zu seinem Gemälde „Das Floß der Medusa“ inspirierten.
Kolonien im Senegal
Begonnen hat alles mit einer Fehlentscheidung. Anfang des Jahres 1816 erhält Hugues Duroy de Chamareys das Kommando über ein Schiffsgeschwader mit symbolträchtigem Auftrag. Vier Schiffe, angeführt vom Flaggschiff „Medusa“, sollen nach Saint-Louis in Senegal segeln, um die dortigen Kolonien im Namen Frankreichs von den Briten zu übernehmen. Die Führung übernehmen im Auftrag des Königs getreue Gefolgsleute: de Chamareys hat sein letztes Schiff vor 25 Jahren kommandiert.
Das Unglück nimmt seinen Lauf
Das merken bald auch die Seeleute, die unter De Chamareys Kommando stehen. Schon nach wenigen Tagen bricht das Geschwader auseinander. Der Arzt Jean-Baptiste Henri Savigny und der Geograph Alexandre Corréard schreiben in ihrem Augenzeugenbericht: „Wir verloren die ,Loire’ und die ,Argus’ aus den Augen, da diese unmöglich der schnellen ,Medusa’ folgen konnten.“
Als dann wenig später auch noch ein Schiffsjunge ins Meer fällt und ertrinkt, bekommen es die Seeleute an Bord mit der Angst zu tun. Es kommt zum offenen Streit zwischen den Offizieren und dem Kommodore, der aber keinerlei Kritik zulässt. Ganz im Gegenteil ernennt er jetzt seine rechte Hand an Bord, den Passagier Antoine Richeford, offiziell zum Vorgesetzten aller Dienstgrade.
Nicht genügend Boote
Das Problem: Richeford hat selbst kaum nautische Erfahrung und führt die „Medusa“ offenen Auges in die Katastrophe. Anstatt Kap Blanc, die letzte große Landmarke vor der gefährlichen Arguin-Sandbank, weiträumig zu umfahren, wählt Richeford einen Kurs nahe der afrikanischen Küste. Cornet de Venancourt, der Kapitän der „Echo“, will die „Medusa“ noch mit Signalen und Pulverschüssen auf die drohende Gefahr aufmerksam machen - vergebens. Als der wachhabende Offizier vor einer Sandbank warnt, winkt Richeford ab.
Er liegt falsch. Es passiert das, was viele der Seeleute lange befürchtet hatten: Die „Medusa“ läuft auf die Arguin-Sandbank auf. Im Bericht an das Marineministerium heißt es später: „Das Unglück verbreitete die tiefste Bestürzung.“ Doch der eigentliche Schrecken beginnt erst, nachdem alle Versuche scheitern, das Schiff frei zu bekommen. Die „Echo“ ist längst außer Sichtweite - und die „Medusa“ hat nicht genügend Rettungsboote für die 400 Menschen an Bord. Der Plan der Kommandierenden: Die etwa 200 Menschen, die nicht mehr auf den Beibooten Platz finden, sollen auf einem riesigen Floß von diesen Booten bis nach Saint-Louis gezogen werden. Am 5. Juli besteigen die Passagiere der Fregatte die Boote. Das Floß indes macht einen derart seeuntüchtigen Eindruck, dass viele der Schiffbrüchigen - vor allem Soldaten, denen man zuvor ihre Gewehre abnimmt, aber auch Handwerker und Seeleute - nur mit Waffengewalt hinaufgezwungen werden können.
Ein Spielball der Wellen
Über die etwa 20 Meter lange und sieben Meter breite Konstruktion aus einem Gewirr von Masten, Planken und Takelage schreiben die Überlebenden Savigny und Corréard später: „Die Menschen standen auf dem Floß bis zu den Hüften im Wasser.“ Obwohl erst 150 Personen auf das Floß evakuiert sind, stehen diese schon so eng zusammen, dass „keiner auch nur einen Schritt hätte tun können“.
Das Bild ist riesig, sieben Meter breit und fast fünf Meter hoch, es hängt im Louvre in Paris und gilt als eines der größten Meisterwerke der französischen Malerei. Dabei hatte es seinem Schöpfer Théodore Géricault alles andere als Ruhm gebracht, obwohl er das 1819 mit Öl auf Leinwand gemalte Bild vorsichtshalber sogar nur „Szene eines Schiffbruchs“ genannt hatte, um Kritiker zum Schweigen zu bringen.
Die aber erkannten auf dem Bild sofort die Anspielung auf die Tragödie der „Medusa“, die nur drei Jahre zuvor für öffentliche Diskussionen, einen Kriegsgerichtsprozess, den Rücktritt eines Ministers und eine peinliche Blamage vor dem Ausland gesorgt hatte. Géricault brauchte zwei Jahre, das Bild zu malen.
Als es fertig war, verzieh Frankreich ihm nicht, dass er der Grande Nation die verstörenden Ereignisse mit Kannibalismus und Mord auf offener See wieder ins Gedächtnis rief. Der Maler, der auf großes Lob gehofft hatte, haderte bis zu seinem Tod fünf Jahre später mit dem Urteil der Zeitgenossen. Sein Grab ziert heute ein Relief seines Bildes.
17 Menschen bleiben lieber auf dem Wrack der „Medusa“ zurück, als sich der Konstruktion anzuvertrauen. Den anderen passiert, was passieren musste: Die Boote werden zum Spielball der Wellen und der Inkompetenz. Ein Seil nach dem anderen wird gekappt oder sogar absichtlich losgelassen - eine Frage, der später ein Kriegsgerichtsprozess nachgeht, bei dem De Chamareys, der wohlbehalten das Ufer erreicht hat, zu drei Jahren Festungshaft verurteilt wird.
Unbeschreibliche Bestürzung
Nachdem alle Seile gekappt sind und die Boote allein das Weite suchen, sind die Menschen auf dem Floß sich selbst überlassen - fast ohne Proviant, ohne Ruder, ohne Segel und ohne jede Hoffnung.
„Nach Abfahrt der Boote war die Bestürzung unbeschreiblich“, erinnern sich die Überlebenden Savigny und Corréard später, die beide auf dem Floß um ihr Leben kämpfen. Nach Stunden des Fluchens, Weinens und Betens nehmen sich die ersten das Leben und stürzen sich in die Fluten, andere verklemmen ihre Gliedmaßen derart zwischen den zusammengebundenen Balken des Floßes, dass jede Hilfe zu spät kommt.
Ein Massaker
Viele der Schiffbrüchigen sind verletzt, zum Teil schwer, alle dursten und hungern. Die Verzweiflung ist bald so groß, dass einige der Soldaten beschließen, dem Leiden ein schnelles Ende zu bereiten, und mit Äxten und Messern beginnen, das Floß in Stücke zu hauen. Daraufhin entbrennt ein Kampf zwischen denen, die mit ihrem Leben bereits abgeschlossen haben. Und denen, die noch einen letzten Funken Hoffnung in sich tragen.
Über Stunden hinweg fallen die Überlebenden immer wieder übereinander her, erstechen und erwürgen sich gegenseitig und werfen andere über Bord. In nur einer Nacht sterben über 60 Menschen. Der Wundarzt Savigny und der Geograph Corréard, die dem Massaker entkommen, erinnern sich später in ihren Aufzeichnungen: „Nun waren wir noch achtundzwanzig. Aber nur fünfzehn von uns schienen ihr Leben noch ein paar Tage fristen zu können.“
Schiffbruch für die Zivilisation
Das Trinkwasser an Bord ist nahezu aufgebraucht. Und so fassen diejenigen, die kaum mehr bei Besinnung sind, einen schrecklichen Entschluss: Um ihr eigenes Leben zu retten, stoßen sie die dreizehn Sterbenden ins Meer. Ganze sechs Tage später entdeckt die Brigg „Argus“ das Floß der „Medusa“ auf dem offenen Ozean.
Die fünfzehn Männer an Bord sind mehr tot als lebendig. Leichenteile, von denen sie sich in ihrer Not ernährt haben, liegen verstreut umher. Ein Schreckensbild sondergleichen.
Der französische Künstler Théodore Géricault hält später genau diese Szene in einem der heute berühmtesten Bilder der Welt fest. Sein Gemälde „Das Floß der Medusa“ von 1819 und der Augenzeugenbericht von Savigny und Corréard, den diese für das französische Marineministerium verfassen, schockieren damals ganz Europa. Bis heute gelten die Ereignisse auf dem Floß der Medusa der Nachwelt als eindrucksvolle Warnung, wie schnell unsere Zivilisation doch Schiffbruch erleiden kann. (mz)