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Gottfried Benn Gottfried Benn: Star der rebellierenden Söhne

06.07.2006, 17:39

Halle/MZ. - Herr Raabe, Sie waren 18, als der Zweite Weltkrieg sein Ende fand. Wann haben Sie das erste Mal den Schriftsteller Gottfried Benn zur Kenntnis genommen?

Paul Raabe: 1948. Damals erschien "die maer von der musa expressionistica", ein Buch von Alfred Richard Meyer, jenem Verleger, bei dem Benn 1912 mit "Morgue und andere Gedichte" als Lyriker debütierte. Meyers Buch, das ich verschlang, war eine Mischung aus Autobiografie, Anthologie und Literaturgeschichte. Dort habe ich meine ersten Benn-Gedichte gelesen, berühmte expressionistische Texte wie "Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke".

Also Verse wie: "Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße / und diese Reihe ist zerfallene Brust". Wie wirkte das damals auf Sie?

Raabe: Schockierend, andererseits hatte ich, bedingt durch die Zeitereignisse, einiges Verständnis.

Haben Sie Benn persönlich erlebt?

Raabe: Leider nicht. Immerhin habe ich Thomas Mann bei einer Lesung erlebt. Aber Benn haben wir in den 50er Jahren alle geliebt. Er war der Star unter den Dichtern.

Sie haben 1960 in Marbach eine heute legendäre Schau über den literarischen Expressionismus veranstaltet. Was war der Anlass?

Raabe: 1958 übernahm ich in Marbach die Bibliothek des Deutschen Literaturarchivs, die auch moderne Kunst sammelte. Weil ich für den Expressionismus zuständig war, kamen wir auf die Idee, die Ausstellung "Expressionismus. Literatur und Kunst 1910-1923" zu machen. Die Schau war ein sehr großer Erfolg. Von dem Katalog redet man heute noch. Es war das erste Mal, dass man in der großen Öffentlichkeit die Literatur des Expressionismus wieder zur Kenntnis nahm. Diese Bewegung war verschüttet und schien weithin vergessen.

Was eigentlich ist das: Literarischer Expressionismus?

Raabe: Der Begriff wurde 1911 von dem Publizisten Kurt Hiller von der Bildenden Kunst auf die Literatur übertragen. Er bezeichnet eine literarisch-künstlerische Bewegung von 1910 bis 1920, in der meist junge Autoren sich gegen die Welt der Väter aufbäumten. Eine Kunstaktion, die sich für den Frieden und für die Revolution erklärte.

Der Geschichtspessimist Benn trug weder die Idee des Weltfriedens noch der Revolution vor sich her. War er ein Expressionist?

Raabe: Aber ja. 1955 schrieb er: "Meine Generation! Hämmert das Absolute in abstrakte, harte Formen: Bild, Vers, Flötenlied." Mit seinen sezierenden "Morgue"-Gedichten hat Benn seine Erfahrungen in der praktischen Pathologie nach außen getragen. Mit "Gehirne", den fünf Novellen um den Arzt Dr. Rönne, hat er expressionistische Prosa geliefert. Thematisch neu, sehr abstrakt, wirkungsvoll.

Benn ist ein protestantischer Pfarrerssohn. Was hat er dieser Herkunft zu verdanken?

Raabe: Seine Aufrichtigkeit vor allem. Seinen Hang zur Revolte. Die Abwendung vom christlichen Glauben, die sicher auch mit dem sehr starken Vater zusammenhängt. Benn gehörte zur Generation der rebellierenden Söhne.

Worin besteht Benns lyrische Tat?

Raabe: Zunächst in der Wahl des Stoffes. Dass er die Scheußlichkeiten und Schrecklichkeiten der Welt so deftig zum Ausdruck gebracht hat. Ich hingegen liebe den bildstarken und melancholischen Benn der 30er und 40er Jahre, den Benn der "Statischen Gedichte".

Wie blicken Sie auf den Benn, der 1933 als Vorsitzender der Sektion Dichtung der Preußischen Akademie der Künste deren NS-Gleichschaltung vorantrieb?

Raabe: Diese Tatsache ist nicht zu leugnen und Benn hat sie in seiner Autobiografie "Doppelleben" beschrieben. Dass er für einige Monate politisch verblendet gewesen ist, sollte man ihm verzeihen, er hat dafür ja auch gebüßt. Aber dass sich gerade dieser Dichter mit seiner so ausgeprägt pazifistischen Haltung zu diesem Engagement hinreißen ließ, bleibt für mich letzthin unbegreiflich.

Ilse Benn, die dritte und letzte Ehefrau des Dichters, haben Sie gekannt. Was war sie für eine Frau?

Raabe: Eine sehr elegante, kluge und zurückhaltende Dame, die 27 Jahre jünger war als er. Sie war Zahnärztin und siedelte nach Benns Tod von Berlin nach Stuttgart über. Meine Frau und ich waren mit Ilse Benn dann sehr befreundet. Sie hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass Benn mit so vielen Frauen eine Affäre gehabt hat. Das war eine Schwäche von diesem Herren. Aber dafür hatte sie Verständnis und Nachsicht.

Warum gibt es heutzutage keinen literarischen Benn-Preis?

Raabe: Das frage ich mich auch. Es liegt wohl daran, dass die Achtundsechziger mit Benn, den sie den Nazis zuschlugen, nichts am Hut hatten, und sich lieber mit den NS-Gegnern identifizierten.