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Golo Mann Golo Mann: Wir alle sind, was wir gelesen

Von CHRISTIAN EGER 26.03.2009, 18:18

Halle/MZ. - Dort, hatte er gehört, lebe "das radikalste, der Vergangenheit und ihrer Schönheiten fremdeste Volk". Wenn das kein Lockruf ist!

Eingetroffen in der DDR-Hauptstadt, läuft der Reporter geradewegs in den Künstlerclub "Möwe", den Treffpunkt der SED-Kultur-Elite. Golo Mann sieht sich um und erkennt: "Die anwesenden Schriftsteller sind in der Mehrzahl noch vom altdeutschen-linksradikalen Schlage: Hornbebrillte, nervöse Kettenraucher, Damen mit hochgeschlossenen schwarzen Kleidern, Habichtsprofilen, kurzem, grauen Haar." Diener tragen Kaffee und ungarischen Wein an die Tische.

Dort "referiert und diskutiert" man "über die Frage, ob Stalin gesagt habe, die Schriftsteller seien die Ingenieure der menschlichen Seele, oder aber: Die Schriftsteller seien die Ingenieure der menschlichen Seelen!" Der Gast reibt sich die Augen. Was, bitte, soll hier radikal oder fremd sein? Eher altbekannt in sich selbst versponnen. All das, notiert er, sei "von unsagbarer Öde und Langeweile; viel trauriger als komisch." Dabei ist der als drittes Kind des Großautors Thomas Mann geborene Golo für Komisches sehr empfänglich.

Flugs verlässt er die "Möwe", um mit leichter Lakonie Schulkinder auf dem Marx-Engels-Platz zu beschreiben, die Transparente tragen wie "Wir Kinder wollen die deutsche Einheit". Das sei "ungefähr wie in Orwells Roman, nur dass die Kinder sich herzlich zu amüsieren scheinen und tatsächlich ganz ohne militärischen Zwang dahertöffeln." Gut gesehen, gut gesagt.

Golo Mann, der heute vor 100 Jahren in München geboren wurde, war eben zu keiner Zeit ein öder Kalter Krieger, kein Mitläufer einer Partei, kein Cliquen-Claquer, sondern ein ungewöhnlich eigenständiger Intellektueller: unabhängig und unberechenbar, feinnervig, fair und gebildet. Ein Beobachter, der fragt: Was ist einer? Was kann der? Und für wen soll das gut sein? Die Linken, denen er in seiner Jugend zugehörte, stoßen ihn ab, die Rechten hasst er. Immer zeigt sich der Literat auf der Seite der "Underdogs", weshalb er 1980 den CSU-Chef Strauß gegen den Oppositions-Mainstream ("eine Hetzkampagne") verteidigt, ohne dessen Ansichten zu teilen. Er wirbt in den 50er Jahren für die polnische Oder-Neiße-Grenze, er unterstützt Willy Brandt, sogar den "lobenswerten" politischen Einsatz des Dichters Günter Grass, mit Abstrichen: Der "kann lebende Menschen hinstellen, mit Busen und Hintern, aber so recht denken kann er nicht."

Wahrnehmungskraft also, Genauigkeit und Originalität: Es sind diese Eigenheiten, die den 1952er Deutschland-Report heute lesenswert machen, der nun in dem Sammelband "Man muss über sich selbst schreiben" (S. Fischer, 19,95 Euro) erschienen ist. Ein Lesebuch, das auch eine Novelle des 18-jährigen Golo enthält, die dieser unter Pseudonym veröffentlicht hatte. Der in Göttingen lebende Journalist Tilmann Lahme hat das Prosastück gehoben, vor allem aber eine große Biografie des Literaten vorgelegt: ein starkes, kluges, sehr lesbares, im Urteil ausgeruhtes Buch.

Es zeigt einen Golo Mann, der neurotisch an seiner Randständigkeit leidet ("zu bang, zu trüb, zu träge"), zu Medikamenten und Alkohol greift. Zu wenig geliebt als Kind, als Homosexueller, als Wissenschaftler mit Hang zur Poesie. Hineingeboren in einen Künstlerhaushalt, studierte er Philosophie, emigrierte nach Amerika und kehrte 1945 als Soldat kurzzeitig, 1958 endgültig nach Deutschland zurück, wo er bis zu seinem Tod 1994 wirken sollte. Längst ist Golo Mann im öffentlichen Ranking der schreibenden Mitglieder der Familie Thomas Manns (und sie schrieben alle, bis auf Mutter Katja!) auf Platz zwei vorgerückt. Die Klaus-Mann-Euphorie der 80er Jahre ist verflogen, Onkel Heinrich ein Fall für Bibliophile. Aber Golo Mann: Seine 1958 erstveröffentlichte "Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts" ist das meistverkaufte deutsche Geschichtsbuch des 20. Jahrhunderts. 1971 erscheint "Wallenstein": ein 1 368-Seiten-Bestseller mit 137 Seiten Anhang. Mit einer Gesamtwerkauflage von mehr als zwei Millionen ist Mann Deutschlands meistgelesener Historiker.

Warum? Dieser Autor bietet Bildung und nicht nur Daten. Er erzählt und referiert nicht. Sein Credo: "Wir alle sind, was wir gelesen". Manns Gedächtnis endet nicht, wie heute üblich, im Jahr 1933. Er setzt auf Kultur statt Nation: Das Reden über "deutsche Identität" hält er für eine "Modesache". Stattdessen: Ideen, Landschaften und Charaktere. Großartig, was Mann über Marx oder Schopenhauer schreibt. Was Geschichte kann? "Sie lehrt uns das Überraschende, Unvorhersagbare: Bescheidenheit und Resignation." Dass Geschichte schreib- und lesbar ist, zeigt Golo Mann.

Tilmann Lahme: Golo Mann. S. Fischer, 551 Seiten, mit Abb., 24,90 Euro