1. MZ.de
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Geschichte: Geschichte: Ein schleichender Selbstmord vor den Augen der Familie

Geschichte Geschichte: Ein schleichender Selbstmord vor den Augen der Familie

Von Christian Eger 11.06.2007, 15:36

Halle/MZ. - Manchmal taucht sie im Nachthemd auf. Zerzaust, torkelnd. Im Blick der Kinder ein Monster.

Das Unglück nimmt nicht einfach seinen Lauf. Es ist das eine große Familienunglück, das hier in seine zweite Phase tritt. Erika Senfft, Jahrgang 1933, ist die Tochter des 1905 geborenen SA-Obergruppenführers Hanns Ludin, der 1941 als "Gesandter und Bevollmächtigter Minister" Hitlers in den "Schutzstaat" Slowakei berufen wird. Mitverantwortlich für die Deportation und Ermordung von 70 000 Juden, wird Ludin 1947 in Bratislava als Kriegsverbrecher hingerichtet. Neun Minuten soll er am Galgen mit dem Tod gerungen haben.

In seiner Familie wird Ludin, der in den Erinnerungen seiner nationalkonservativen Weggefährten Ernst von Salomon und Richard Scheringer das Bild vom fairen, feinen Nazi abgibt, der gute Mensch von Bratislava bleiben. So definiert ihn dessen 1997 gestorbene Witwe Erla Ludin bis zum Schluss. Und es ist dieses Bild, das sie an ihre sechs Kinder weitergibt: Ludin sei kein Krimineller, sondern ein guter Mensch und guter Nazi gewesen. Einer, der nicht gewusst haben soll, wohin die von ihm befohlenen Juden-Deportationen geführt haben. Es herrscht das Gebot vom Entweder-Oder: Ein "guter" kann eben kein Mensch mit "bösen" Anteilen sein. Ein sittliches Reinheitsgebot waltet, das alle aggressiven Charakterzüge ausblendet. An diesem Verleugnen und Abspalten von Tatsachen im Leben und Wesen ihres Vaters, der für sie solcherart ein Gespenst bleiben muss, sei ihre Mutter gestorben, schreibt Alexandra Senfft in ihrem Erinnerungsbuch "Schweigen tut weh".

Erika war eine Vatertochter, die ihre schönsten Kindheitsjahre in Pressburg verlebte, das man auf "Fressburg" reimte. Bis zum Schluss schrieb sie ihrem Vater ins Gefängnis, bat um Rat, verehrte ihn tief. Sie wird den Erfolgsjuristen Heinrich Senfft heiraten und ins linksliberale Hamburger Milieu der 60er und 70er Jahre eintauchen. Rudolf Augstein, Willy Brandt, Günter Gaus und Romy Schneider, sie alle gehören zu den Gästen der Familie. Und zu den Bewunderern der schönen, aber meist stummen Hausfrau, die einen reizenden Blickfang abgab. Bis sie 1998 mit 64 Jahren an den Verbrennungen stirbt, die sie sich beim Sturz in eine mit heißem Wasser gefüllte Badewanne zuzog.

Die Journalistin Alexandra Senfft schildert den Leidensweg ihrer Mutter als eine psychosoziale Höllenfahrt. Das unterdrückte Schuldgefühl der Familie habe sich in dieser Frau ausgetobt: "ein schleichender Selbstmord". Reizvoll die Seitenblicke ins linksliberale Milieu, das ja auch einige Biografien hinter sich gelassen hat, und das in seiner Karriere-Seligkeit die Ludin-Tochter kühl an sich abgleiten lässt. Erhellend der Blick auf die Familie des SA-Führers und Ludin-Assistenten Hans Gmelin, Vater der Politikerin Hertha Däubler-Gmelin, der es nicht an den Galgen, sondern zum Oberbürgermeister und Ehrenbürger von Tübingen bringt. Der Ludin habe Pech gehabt, hört man da immer wieder.

Zu nah und breit an der Mutter entlang verfasst, kommt Erla Ludin im Buch viel zu kurz. Dabei, sagt die Autorin, müsse man doch alle Facetten einer Person zusammendenken. Was wiederum zu der Fragen führen müsste, was einen Menschen zum Verschweigen treibt. Eine Zeitgeschichte der Scham, ihrer Zwänge und Nöte, das wäre heute ein reizvolles Unterfangen.