Geschichte Geschichte: Das letzte Dinner
Halle (Saale)/MZ. - Wäre er an Bord der "Titanic" gewesen, hätte sich August Escoffier kurz vor Mitternacht sicher entspannt zurück gelehnt. Die elf Gänge, die er für das Dinner am Abend des 14. April 1912 für die First-Class-Passagiere kreiert hatte, waren verputzt. Wahrscheinlich war die illustre Gesellschaft, der Empfehlung seiner Speisekarte folgend, gerade zu Portwein und Likör übergegangen oder hatte sich eine Zigarre angesteckt, als um 23.40 Uhr der Eisberg das Schiff aufschlitzte. Aber August Escoffier saß im fernen Europa. Dort galt er als Meisterkoch mit Weltruhm, ein "Jahrhundertkoch" wie heute Paul Bocusse oder Eckart Witzigmann.
Escoffiers Speisekarte sorgte dieser Tage nach 100 Jahren kurz für Schlagzeilen. Sie wurde im englischen Auktionshaus Aldridge & Son in Devizes für 91 000 Euro versteigert. Dass sie nun einen englischen Sammler glücklich macht, hat er, wenn die Legende stimmt, Ruth Dodge zu verdanken. Die Frau des amerikanischen Bankiers Washington Dodge hat sie nach dem Essen in ihre Handtasche gesteckt, die sie nie losließ, als das Schiff sank und sie am frühen Morgen des 15. April gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem Sohn gerettet wurde.
1 522 Menschen ertranken in jener Nacht. Das Entsetzen ist heute längst der Faszination gewichen und zum perfekt vermarkteten Mythos "Titanic" geworden. Wahre Fans der Tragödie kennen alle 13 großen "Titanic"-Filme, James Cameron Kultfilm inklusive. Der erste entstand noch im Jahr des Untergangs, die Hauptrollen spielte Dorothy Gibson, eine Überlebende. Der Prunk der Ersten Klasse, die kulinarische Opulenz, der Luxus und der Überfluss dort, ist in nahezu jedem Film zu besichtigen.
Behauptet wird, dass die "Titanic" die größte schwimmende Küche der Welt war, 19 Küchen soll es an Bord gegeben haben, um die 2 200 Passagiere ihrem Stand entsprechend beköstigen zu können - auf 29 700 Tellern, mit 18 500 Gläsern, mit 40 000 Bestecken. Was davon geblieben ist nach 100 Jahren, kam und kommt unter den Hammer oder ins Museum. Das weltgrößte hat gerade dieser Tage in Belfast eröffnet, wo das Schiff gebaut wurde und sich für die Museumseröffnung noch die 105-jährige Cyril Quigley finden ließ, die am Kai gestanden haben soll, als die "Titanic" ablegte. Die letzte Überlebende, Millvina Dean, verstarb 2009. Das Jubiläum des grausigen Endes lässt deutschlandweit Köche zur Speisekarte von August Escoffier greifen: "Titanic"-Dinner sind in Restaurants, auch Theater, wie das neue theater in Halle, kochen und spielen mit, wie ab Samstag in Halle auf dem Saale-Schifff "Händel 2" zu besichtigen ist. Kochen und untergehen werden zum "Event". Hoch im Kurs steht beim Retro-Kochen das letzte First Class-Dinner. Das hatte elf Gänge, die von einem halben Dutzend Weinen begleitet wurden, Bordeaux war dabei, Champagner und Weine von Rhein und Mosel. Den Auftakt machte Canapés mit Garnelencreme, dann folgte Olga, eine Kraftbrühe, die überleitete zu Runde vier, Hühnchen Lyonnaise. Der pochierte Lachs war die Nummer fünf. Kern des Dinners dürfte Gang fünf gewesen sein, Lamm mit Minzsauce, mit Calvados glacierter Entenbraten, Lendensteak - und neue Kartoffeln. Wobei für die Esser zu hoffen ist, dass sie die Wahl aus diesem Trio gehabt haben, denn sonst wäre das Angebot überaus massiv - falls es nicht nur luxuriöse Häppchen gewesen sind. Leicht dann Gang sechs, ein Sorbet und auch das gebratene Täubchen passte da noch rein, das war die sieben.
Acht bis elf bereiteten den leichten Abgang aus der Völlerei, mit Spargelsalat (acht), Leberpastetchen (neun), Waldorfpudding und diverses Eis (zehn). Als abschließendes Kürprogramm folgten Obst und Käse. Zigarren, Kaffee, Portwein waren das finale Angebot.
War es wirklich so? 100 Jahre danach wabert im Internet die Diskussion über die Zählweise der Gänge. Waren es tatsächlich elf? Oder drei Menüs, die man wahlweise kombinieren konnte?
Die wenigsten Dinner-Nachkocher trauen sich ans volle Programm ran, das viele Stunden kostet und viele Hände braucht und schon beim Einkauf Hürden aufbauen dürfte. Wo zum Teufel bekomme ich die Täubchen für den siebten Gang her? Wie geht das mit der Gerste für die Rahmsuppe? Aber der Blick in Escoffiers Speisekarte macht auch nicht mutlos. Lamm gibt es, Lende auch, mit etwas suchen finden sich Austern in Halle. Erbsen, Reis, Karotten, Leber, Lachs sind kein Problem. Punch Romaine ist ein Sorbet, auch dafür finden sich die Zutaten leicht. Wer nicht Zeit, Geld oder Können für alles hat, kocht auf "Titanic"-Sparflamme das eine oder andere Menü des Riesendinners. Das Internet quillt über vor Empfehlungen, vor allen auch vor Variationen des Menüs, die eher heutigen Essgewohnheiten und Ansprüchen entsprechen.
Eine der öffentlich-rechtlichen Küchen hat gezeigt, wie es auch häppchenweise geht mit dem großen Menü, ohne dass man vor Ehrfurcht und Pietät am Herd erstarrt. Markus Lanz ließ im ZDF kochen und setzte Sterne-Köche wie Alfons Schuhbeck, Lea Linster oder Horst Lichter auf Alexander August Escofiers Speisekarte an und ließ nörgeln: Manches mache man heute einfach anders! Auch die Küchentechnik sei ein Jahrhundert weiter. Und der Geschmack der Gourmets habe sich gewandelt, die Moden und Gewohnheiten. Garnelenpaste etwa, wie ganz am Dinner-Anfang, passe nicht mehr in die Zeit, Garnelen pur sind angesagt und die Orangen müssten natürlich rein und bio sein, unbehandelt also.
So machte Horst Lichter aus dem "Titanic"-Dessert eigene Variationen und natürlich ist der Titanic-Spargel von Schuhbeck Alfons keine schnöde Kopie des First-Class Salates. Das TV-Publikum klatschte immer fröhlich, wenn "Titanic" -Episoden eingestreut werden und bestätigte natürlich: Schmeckt toll!
In den "Titanic"-Küchen der Welt ist 100 Jahre danach der Umgang mit dem Drama offenbar von hohem Genuss- und Unterhaltungswert geprägt. Wem das am heimischen Herd doch eine Spur zu makaber ist, kann ins Filmgeschäft ausweichen und kochen, was Stars in ihren Filmen mochten oder kochten. Kaninchen a la Peter Borgelt vielleicht, Französische Schnecken, wie sie Pretty Woman Julia Roberts versuchte oder der stille Genießer labt sich an Forrest Gumps (Tom Hanks) Kokosnuss-Shrimps. Das ist dann nicht so gruselig, weil ganz ohne Eisberg.