Georg Kaiser Georg Kaiser: Leben hinter Schleiern
Halle (Saale)/MZ. - Am 13. Oktober 1920 wird Georg Kaiser in Berlin verhaftet. Aus dem Hotel "Esplanade" weg wird der 41-Jährige in Handschellen dem Haftrichter vorgeführt. Dem tritt kein Irgendwer gegenüber, sondern der nach Gerhart Hauptmann meist aufgeführte Dramatiker seiner Zeit. Genauer: dieser Jahre. Ein Erfolgsautor, der aus der expressionistischen Nische heraus den Sprung auf die Bühnen geschafft hat mit Stücken wie "Von morgens bis mitternachts" und "Die Bürger von Calais".
Und Kaiser will nachholen: gesellschaftlich - und finanziell. Zwei Wohnungen, immer ein Hotelzimmer in Berlin, ein Chauffeur, ein Kindermädchen, auch wenn die Einkünfte das gar nicht hergeben. Schließlich geschieht das: Dem in Magdeburg geborenen Autor wird vorgeworfen, aus der von ihm angemieteten Wohnung in München und der ebenfalls angemieteten Villa in Tutzing Wertgegenstände verschiedener Art verkauft oder verpfändet zu haben, Scheckbetrügereien kommen hinzu.
Alle Taten räumt Kaiser ein, allerdings mit dem Hinweis, dass er die Diebstähle im Hinblick auf eine Wiedergutmachung - irgendwann - unternommen hätte. Im übrigen ist Kaiser immer der Meinung, dass für einen Künstler andere zivile Regeln zu gelten hätten als für den Bürger nebenan. Schließlich leiste er etwas Einzigartiges, was einzigartige Bedingungen brauche. Weshalb Kaiser an seine Ehefrau Margarethe, mit der er drei Kinder hat, schreiben kann: "Mein Prozess ist eine Blamage für Deutschland".
Das muss man nicht so sehen. Die Presse schreibt kritisch: "Man mußte in einer Villa wohnen, man mußte ein Haus haben, man mußte reisen. Schade, daß auch die Geistigen das Vorbild ihrer Lebensführung lieber dem von ihnen verachteten Dasein der Kriegsgewinnler entnehmen..." Die Presse psychologisiert auch. Georg Kauder in der "B.Z. am Mittag" zeigt Kaiser vor der Welt "hinter ästhetischen Schleiern stehend". Einer, der lebenspraktisch nicht durchsieht. Der Journalist stellt fest: "äußerstes Selbstbewußtsein und äußerste Verschämtheit ist bei Lebensunzulänglichen oft einziger und letzter Naturschutz des Lebenswillens".
Das ist abschätzig geurteilt. "Hinter ästhetischen Schleiern stehend"? Wie denn anders bei jemandem, der Kunstwerke schafft? Und "lebensunzulänglich"? Doch nur unzulänglich für ein Leben, das auf größtmögliche Anpassung an den Erwerbs- und Dienstalltag zielt. Das konnte bei Kaiser nicht der Fall sein: Alles, was diesem Mann begegnet, bewertet er danach, ob es seinem Werk nützt - oder nicht. Nach diesen Maßgaben liebt er. Oder lügt. Oder beides zusammen.
Die amerikanische Germanistin Gesa M. Valk, seit ihrer 1989er Kiepenheuer-Veröffentlichung "Georg Kaiser in Sachen Georg Kaiser" die
international Ton angebende Kaiser-Forscherin, hat das Ineinander von Leben, Lüge und Liebe in zwei Büchern zusammengetragen, die vor allem Kaisers Verhältnis zu seiner Geliebten Maria von Mühlfeld dokumentieren. Das erste Buch "Georg Kaiser. Berühmter Dramatiker und ein rätselhafter Mensch" (Mitteldeutscher Verlag, 144 Seiten, 9,90 Euro) zeigt die äußere Konstellation von 1920 an bis zu Kaisers Tod in der Schweiz 1945. Das zweite bietet - literaturhistorisch eine Sensation! - erstmals die Briefe der Geliebten an den Kaiser-Freund Julius Marx (1888-1970) unter dem Titel "Maria von Mühlfeld: Ein ganzes Leben im Schatten" (Mitteldeutscher Verlag, 208 Seiten, 19,90 Euro). Zwei Bücher, die man nicht ohne Erschütterung liest. Zwei Bücher, die ihre Recherche-Wege jeweils offen legen, bis hin zur Begegnung Valks mit der Kaiser- und Mühlfeld-Tochter Olivia, die heute über 80-jährig in Amerika lebt - und die mit der Vergangenheit im Schatten Kaisers nichts, tatsächlich gar nichts mehr zu tun haben will. Warum?
Maria von Mühlfeld (1896-1947), geborene Fischel, ist eine deutsch-jüdische Kaufmannstochter in Berlin, die Kaiser am Tag von dessen Verhaftung kennenlernt - und die ihm sofort verfällt. Maria liebt Kaiser als Künstler, dessen "unsterblichem" Werk zuzuarbeiten, für sie ein Glück ist. Kaiser bewegt die daraufhin von ihrer Familie verstoßene Frau zu einer - mutmaßlich von ihm selbst bezahlten - Scheinehe mit dem Kollegen Karl von Mühlfeld. 1926 wird die Ehe geschlossen, 1927 die Kaiser-Tochter Olivia geboren. Die Situation ist sozial anspruchsvoll: Erst streitet Kaiser gegenüber seiner Ehefrau die Liebe zu Maria ab, dann hält er sie geheim. Zum Zeitpunkt der Geburt der Tochter verliebt sich Kaiser in eine andere Frau und überlässt Maria sich selbst. Über Jahre lebt sie am Rand der Armut - und wird erst von Kaiser gerufen, um mit ihm 1938 gemeinsam in die Schweiz zu ziehen. Ein Umzug aus wirtschaftlichen Gründen mehr als eine Flucht vor den Nazis, die Kaisers Schriften zwar 1933 verbrannt hatten, den Autor aber gut aushalten. Die Kernfamilie bleibt in Deutschland und erfährt von der Nebenfamilie erst mit Kaisers Tod; zwei Jahre darauf stirbt Maria.
Die von Gesa M. Valk entdeckten Briefe Maria von Mühlfelds zeigen das - vor allem herbeigesehnte - Glück und tatsächliche Elend der Nebenfamilie, die auch in der Schweiz von Kaiser verleugnet wird; der lebt, von Gönnern ausgehalten, in Schlössern und Hotels, um sich heimlich zu seiner Familie zu schleichen. 1944 ist er ein zutiefst verbitterter Mann, der "Menschen und Bücher" als "Dreck" bezeichnet. Ein Künstler, der nicht mehr gebraucht wird, und der als Mitmensch wenig brauchbar ist. Ein großer Stoff, dem man die große Form noch wünschen muss.
Buchpremiere mit Gesa M. Valk am 22. September, von 10 Uhr an im Zuge der "Literaturkonferenz" im Rahmen der Landesliteraturtage im Foyer des Magdeburger Opernhauses. Zudem wird vorgestellt von Sabine Wolf (Akademie der Künste) "Kunst und Leben. Georg Kaiser (1878 - 1945)".