Gao Xingjian Gao Xingjian: «Buch eines einsamen Menschen»
Peking/dpa. - Es hätte kaum anders heißen können, das «Buch eineseinsamen Menschen». Mit seinem autobiografischen Roman beschreibt derchinesische Literaturnobelpreisträger Gao Xingjian nicht allein diegrausamen Wirren der Kulturrevolution (1966-1976) in China, sondernerkundet dabei vielmehr auch die einsamen Tiefen der menschlichenSeele und die unverheilten Wunden. Zum ersten Mal seit der nichtunumstrittenen Verleihung des Nobelpreises 2000 an den seit 1987 imfranzösischen Exil lebenden chinesischen Schriftsteller, Dramatikerund Regisseur liegt damit ein neues Werk von Gao Xingjian vor, vondem in Deutschland vor allem «Der Berg der Seele» bekannt ist.
Es ist eine starke Erzählung, schon 1999 in Taiwan erschienen undgut aus dem Chinesischen übersetzt. Mit den verschiedenenZeitfenstern wechselt die Perspektive. In der eher entfernten drittenPerson wird die ältere Geschichte erzählt, wie «er» die Verfolgung,die Denunziation, das Umerziehungslager und die wechselnden Kampagnender Kulturrevolution erlebt und überlebt. Wer nicht teilnimmt, machtsich verdächtig. Wer nicht angreift, wird angegriffen. Opfer oderTäter? So einfach ist das nicht. Die revolutionäre Utopie von MaoTsetung, der im Machtkampf die Roten Garden mobilisiert und sichihrer als Fußsoldaten bedient, löscht mit ihrer bäuerlichenRadikalität das menschliche Miteinander Chinas aus.
Die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der chinesischenGeschichte hat heute noch nicht einmal begonnen. «Das Buch eineseinsamen Menschen» macht einen Anfang, ist in China aber nichterhältlich. Der Kritiker wird totgeschwiegen. Auch zurinnerchinesischen «Wundenliteratur» kann das Buch schwer gezähltwerden. In seiner realistischen Offenheit geht es darüber hinaus, daes nicht auf die Zensur Rücksicht nehmen muss. Doch Gao Xingjianklagt weniger an, als dass er in seiner Erzählung auf dermenschlichen Ebene bleibt. Manchmal poetisch, meist aber erzählerischbeschreibt er das von Macht und Ideologie verdrehte Individuum, dasBefreiung sucht. «Heute verfolgst du keine Theorien mehr. Ein Menschohne Theorien ist einfach viel mehr Mensch.»
«Er» selbst schließt sich den Rebellengruppen an, eifert, klagtan. Die Hölle sind eben nicht nur die anderen, und die Erinnerung istihm später selbst «die Hölle». Mao Tsetung hinterlässt einen «dunklenSchatten» in seinem Herzen, von dem er loskommen will. Lange lebt GaoXingjian schon in Frankreich, dessen Staatsbürgerschaft er hält, undleidet doch wie jeder Chinese unter Heimweh. In der Liebe zu einerjüdischen Frau sucht der Erzähler die Vergangenheit und das Schicksalzu vergessen, während die Frau das Schicksal ihres Volkes keineswegsvergessen will.
Gao Xingjian wechselt in der jüngeren Vergangenheit zum zunächstungewohnten, oft auch selbstkritischen Zwiegespräch mit «Du». Esbeginnt 1996 in Hongkong - ein Jahr vor der Rückgabe der früherenbritischen Kronkolonie Hongkong an das kommunistische China.Existenziell menschlich und offen beschreibt Gao Xingjian eineSexualität, die sich durch sein Buch zieht und es als historischeSchullektüre ungeeignet erscheinen lässt. Die Leidenschaft wirktmanchmal fremd, manchmal unpassend, eben einsam. Kühl lässt der Autorerkennen, das auch die Liebe der verwundeten und irrenden Seele keineErlösung schenken kann.
Gao Xingjian: Das Buch eines einsamen Menschen; S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main; 480 S., Euro 29,90; ISBN 3-10-024504-0