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Franckesche Stiftungen Franckesche Stiftungen: Leuchten sollen diese Häuser

Von CHRISTIAN EGER 06.05.2010, 17:18

HALLE/MZ. - Im Jahr 1701 verfasst August Hermann Francke (1663-1727), Begründer und Bauherr der weltberühmten Franckeschen Stiftungen in Halle, ein nie veröffentlichtes, allein unter Getreuen handschriftlich verteiltes Konzeptpapier. "Project" ist das Blatt knapp überschrieben, erläutert von einem barock ausschweifenden Untertitel: "Zu einem Seminario Universali oder Anlegung eines Pflantz-Gartens, von welchem man eine reale Verbesserung in allen Ständen in und auserhalb Teutschlandes, ja in Europa und allen übrigen Theilen der Welt zugewarten".

Nicht nur um Deutschland also geht es dem pietistischen Theologen, sondern insgeheim um Europa, ja die ganze Welt. "Von Zeit zu Zeit" sollen "wohlgerathene Pflantzen" aus diesem "Seminario" herausgenommen und an andere Orte verpflanzt werden. Eine Elite zur "realen Verbesserung" der Welt, die sich solcherart über die Erde ausbreitet. Mit Franckes von 1698 an vor den Toren Halles errichteten Waisen- und Schulhäusern hat dieses Projekt zunächst wenig zu tun. Aber es zeigt eine globale sozialreformerische Vision, die dem sachlichen und geistig-geistlichen Einsatz dieses bedeutenden deutschen Pädagogen eine Richtung gibt.

Stadt auf dem Berge

Denn Francke arbeitete in einer von Weltverbesserungsvisionen aufgeladenen Zeit. Ideale Gemeinschaften, ideale Städte wurden projektiert. 1602 entwarf Tommaso Campanella den katholischen "Sonnenstaat". 1619 lieferte Johann Valentin Andreae seine Schrift über die protestantische Idealgesellschaft "Christianopolis". Auch wenn Francke entschieden ein Pragmatiker war, der mehr der "Polizey"- als Utopie-Literatur zusprach, kannte er doch wohl die bekanntesten visionären Bücher. Und wenigstens sozialutopische Elemente zeigt die von ihm selbst errichtete "Stadt auf dem Berge".

"Gebaute Utopien: Franckes Schulstadt in der Geschichte europäischer Stadtentwürfe" heißt die Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen, die morgen eröffnet wird. Neben Franckes eingegilbtem Weltverbesserungs-Papier sind auch die Bildnisse von Campanella und Andreae zu sehen. Mehr als 400 Schaustücke machen den Geist von Franckes Bauten im Geist der Zeit sichtbar. Aus welchem Ideenraum heraus erfolgte der Stiftungsbau? In welcher Weise wirkte dieser selbst als idealtypisch fort? Keine einfachen Fragen für nur eine Ausstellung, der es aber gelingt, unangestrengt und spielerisch hallesche Bau- mit europäischer Geistes- und Sozialgeschichte zu verbinden. Der Rechercheaufwand, den das Team um den Kurator Holger Zaunstöck geleistet hat, muss enorm gewesen sein.

Sieben Schauräume, mehr als 500 Jahre, von der Renaissance an bis in die Gegenwart. Zimmer für Zimmer wird man überrascht; irgendeine unbekannte kleine Sehenswürdigkeit ist immer dabei. Und wenn einem dann doch mal die Augen flirren vor Perückenköpfen und Schnörkellettern, dann darf man mit orangefarbenen Klötzen seine eigene Idealstadt bauen, diese auf Knopfdruck fotografieren lassen und das ausgedruckte Bild entweder an die dafür vorgesehene Pinnwand heften - oder für ganz private Planspiele nach Hause tragen. Die Leipziger Gestalter von Kocmoc.net haben hier beste Arbeit geleistet. Ausdrücklich sind in der Schau Kinder erwünscht.

Los geht es mit den neuantikischen Stadtidealen der Renaissance: großartig die Musterstadtansicht von Piero della Francesca, reizvoll die Korkmodelle römischer Bauten, wichtig die Darstellung des Salomotempels in Jerusalem, der als Idealbauwerk galt. Drei spekulative Nachbaumodelle gab es um 1800: in London, Hamburg - und in Franckes Stiftungen; dort verschwand es im 19. Jahrhundert. Faszinierend ist das Ölbild vom Häuserbau in der Berliner Friedrichstadt: zwei lange Gebäuderiegel wie in Franckes Schulstadt.

Es folgen Großbauten, die Francke kannte: Modelle vom Erfurter Augustinerkloster und - nahezu raumfüllend in Holz! - von Schloss Friedenstein in Gotha. Sinnfällig die Baugeschichte der Stiftungen: ein Stück der alten Holzrohrwasserleitung, der Dankesvers eines Glauchaer Bürgers für die neue Wassertechnik: "Es leuchten die Gebäude vielen Menschen so in die Augen, daß sie den Finger Gottes darin erkennen und preisen".

Ansichten von Gemeinschaftsbauten in England, Russland und Amerika schließen an. Rechter Glaube, rechter Winkel: Ordnung, Abschottung, Funktionalität, das sind Attribute der vorbildhaft halleschen Architektur. Dann die preußische und sozialistische Zeit; letztere wusste mit den Stiftungen nichts anzufangen. Interessant die Entwürfe für die Arbeiter- und Bauernfakultät auf dem Stiftungsgelände; die erste Zeichnung zitiert Franckes Waisenhausportal, gebaut wird anderes. Dann Ulbricht, die Hochstraße, der Niedergang - und die Auferstehung nach 1990.

Hoffen auf den Welterbestatus

Eine eigenständige Leistung ist der meinungsfreudige, im Gestus sehr akademische Katalog. Hier soll die Beglaubigung des Utopie-Stichwortes für Francke geliefert werden; nicht immer überzeugend. Einerseits wird das Fehlen eines "Masterplanes" bei Francke festgestellt, um einen solchen dann wie nebenbei zusammenzupuzzeln: Das ist die sich selbst erfüllende These.

Gar nicht diskutiert und problematisch ist der konturlose Begriff des "Utopischen". Denn ein Utopist war Francke doch nicht; er lebte in Glaubensgewissheiten. Eine Fundgrube ist der Katalog trotzdem und das Lesebuch zur Bewerbung um den Weltkulturerbe-Status, über den die Stiftungen in den nächsten fünf Jahren zu verhandeln hoffen.

Eröffnung: Freitag (07.05.2010) 16 Uhr, Freylinghausensaal. Den Festvortrag hält Dieter Bartetzko (FAZ). 15-18 Uhr Kinderprogramm im Krokoseum. Die Schau: bis 3. Oktober.

Di-So 10-17 Uhr. Katalog: 264 Seiten, 24 Euro.