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Felizitas Leitner Felizitas Leitner: Die Kraft der Poesie als medizinisches Heilmittel

Von Thomas Oser 21.09.2004, 09:19

Hamburg/dpa. - Der Fall stammt aus der Praxis der Allgemeinärztin Felizitas Leitner aus Weßling bei München. Vor fünf Jahren hat sie begonnen, Gedichte in ihre medizinischen Behandlungen mit einzubeziehen. «Menschen, bei denen sich für ihre körperlichen Symptome nichts Organisches feststellen lässt, konfrontiere ich mit einem Gedicht, das es ihnen ermöglicht, einen direkten Zugang zu ihren Gefühlen zu finden», sagt Leitner.

Inspiriert zu dieser ungewöhnlichen Therapie wurde die Ärztin unter anderem durch ihren Ehemann, den Lyriker und Verleger Anton G. Leitner. Vor kurzem ist ein Buch von ihr mit dem Titel «Die Venus streikt. Gesund durch die Kraft der Poesie» erschienen. In diesem zeigt sie, wie Gedichte ­ von Andreas Gryphius über Friedrich Rückert bis hin zu der jungen Lyrikerin Nora Bossong ­ in schwierigen Lebenslagen oder bei chronischen Krankheiten helfen können.

Leitner schließt damit an eine uralte Tradition an. Schon seit der Frühgeschichte gibt es religiöse Riten, bei welchen Schamanen Gedichte singen oder sprechen, um das Wohl eines Einzelnen oder des ganzen Stammes zu erwirken. Und in der griechischen Mythologie ist Apollo sowohl der Gott der Poesie als auch der Medizin. In neuerer Zeit hat Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, bemerkt: «Nicht ich, sondern die Dichter haben das Unbewusste entdeckt.»

Klinisch erforscht wird die heilende Wirkung der Poesie allerdings erst seit Ende der 1950er-Jahre. Vorreiter war der amerikanische Lyriker und Pharmazeut Eli Greifer. Ihm folgten der Psychiater Jack Leedy sowie der Psychologe und Dichter Arthur Lerner. In den Vereinigten Staaten ist die Poesietherapie inzwischen eine weit verbreitete Behandlungsmethode. Eine einschlägige Fachzeitschrift («Journal of Poetry Therapy») und jährlich sechs bis acht Dissertationen dokumentieren den wissenschaftlichen Fortschritt auf diesem Forschungsgebiet.

Auch in Deutschland ist die Poesietherapie langsam im Kommen. Mit der «Deutschen Fachgesellschaft für Poesie- und Bibliotherapie» gibt es einen eigenen Berufsverband, welcher in Kooperation mit dem Fritz-Perls-Institut für Integrative Therapie spezielle Aus- und Weiterbildungen anbietet. In einigen Krankenhäusern wie der Klinik für Tumorbiologie in Freiburg ist Poesietherapie bereits ein Teil des Behandlungsplans. Das wichtigste Buch zum Thema, «Poesie und Therapie» von Ilse Orth und Hilarion Petzold, ist allerdings vergriffen und wird nicht wieder aufgelegt.

Dem Philosophen und vergleichenden Therapieforscher Lutz von Werder zufolge geht es bei der Poesietherapie insbesondere darum, die innere Gefühlssituation der Patienten zu stärken. «Wichtig ist vor allem die richtige Auswahl», sagt von Werder, «die Gedichte sollen nicht nur den Gemütszustand spiegeln, sondern möglichst auch einen Silberstreif aufweisen, der beispielsweise aus einer Depression herausführt.»

Von Werder verweist nicht zuletzt auf zwei große deutsche Dichter: «Rainer Maria Rilke hat vorgemacht, wie die großen Tragödien des Lebens in Gedichte verwandelt werden können und Gottfried Benn hat immer wieder betont, wie durch das Wort schlimme Erlebnisse mystisch gebannt werden können.»

Felizitas Leitner geht es dagegen vor allem um die praktische Anwendung der Poesie im medizinischen Alltag. Sie möchte mit den von ihr ausgewählten Gedichten Menschen in Konfliktsituationen und schwierigen Lebenslagen ein Stück weit Orientierung geben. Dazu gehört für sie auch, Trost zu spenden. Für eines der schmerzlichsten Erlebnisse, dem Tod eines Kindes, hält sie Verse aus den «Kindertotenliedern» von Friedrich Rückert bereit: «Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen, / Bald werden sie wieder nach Hause gelangen, / Der Tag ist schön, o sei nicht bang, / Sie machen nur einen weitern Gang.»

Felizitas Leitner

Die Venus streikt. Gesund durch die Kraft der Poesie

Daedalus Verlag, Münster

152 S. Euro 16,80

ISBN 3-89126-149-7 (dpa)