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«Faust I» als Volkstheater im Hamburger Schauspielhaus

Von Ekkehard Rossmann 24.10.2004, 09:59

Hamburg/dpa. - Regisseur Jan Bosse hatte am Sonnabend am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg mit der Premiere seines «Faust» ein schweres Erbe anzutreten: Als legendär gilt die Hamburger Inszenierung des Goethe-Klassikers von Gustaf Gründgens' aus dem Jahre 1957.

Gründgens' Inszenierung ist 1960 auch verfilmt worden ist und gehört seitdem zum Pflichtprogramm unzähliger Schulklassen im Deutschunterricht. Doch gegen dieses schwere, zweifellos verklärte Bild am Haus wusste sich Bosse so intelligent wie selbstbewusst durch einen beherzten Kunstgriff zu behaupten: Er riss die Bühnenrampe ein und ließ unter den Zuschauern spielen. Und das Theater diente Bosse als Kulisse für die Tragödie, die er auf das Goethe-Wort konzentriert inszenierte. Das Publikum honorierte den Mut mit Jubel für die Darsteller und einigen Buhs für den Regisseur.

Edgar Selge in der Titelrolle balancierte beim Rezitieren der Verse über Logenbrüstungen, spurtete durchs Parkett, sprach seine Monologe Auge in Auge mit dem Publikum und pinkelte ihm auch mal ungeniert vor die Füße. Gretchen (Maja Schöne) wandte sich in ihrer Not direkt an Zuschauer, die sie im Wahn für ihren Heinrich oder die tote Mutter hielt, provozierte in der Kerkerszene bewusst Gelächter und Peinlichkeit. Joachim Meyerhoffs chamäleonhaft sich wandelnder Mephisto hingegen punktete mit allerlei Teufel-Slapstick und Zaubertricks vom Jahrmarkt.

Nah am Volk und für das Volk gab Bosse entschlossen ironisch das Drama um den vom Weltentreiben angeekelten Akademiker. Im Sinne der Volksbücher entfesselte er komödiantisches modernes Volkstheater. Alle Darsteller wie auch der Faust-Chor sitzen verstreut in den Reihen des auf der Bühne weitergebauten Zuschauerraums. Ins Zentrum der Theaterarena stellt Stephane Laime lediglich ein rundes dreistufiges Podium, eine sich drehende Peepshow-Bühne. Sie eignet sich zum Flug durch die Luft ebenso wie als Lager für das Gretchen.

Mephisto, im Prolog noch der gefallene Engel mit schwarzen Schwingen, tritt Faust als dessen zweites Ich entgegen. Nach dem Verjüngungstrank tragen die durch Vampirkuss verbundenen Blutsbrüder die heutige Uniform der ewig Jugendlichen: Blue Jeans mit passender Jacke. Mephisto spielt, gottgleich wie ein Regisseur, mit dem Licht: Ein Fingerschnippsen und es wird taghell oder stockdunkel. Sogar die Notlichter geben bereitwillig ihren Geist auf. Beleuchtung ersetzt das Bühnenbild, verzaubert die Raumkulisse. Viel Luft bleibt für das Wort. Und Selge bringt es zum Leuchten, zündet in den Anfangsmonologen Funken von Ironie, Geist und Goethes überraschend subversiven zeitnahen Witz.

Auch einige vom Dichter für die Ausgabe 1806 unterdrückte Verse, wie den obszönen Lobgesang auf Geld und Sex, lässt sich Meyerhoffs Mephisto in der Walpurgisnacht bei Schwarzlicht nicht entgehen. «Armer Faust», stöhnte ein Zuschauer. Darauf der schlagfertige Teufel: «Der überlebt so Einiges». Der Satan im roten Anzug sollte Recht behalten: Die Aufführung triumphierte trotz etlicher Schwächen im zweiten Teil und setzt die Erfolgsserie des Intendanten Tom Stromberg seit Beginn dieser Spielzeit fort.