Eugen Ruge Eugen Ruge: Kommunisten-Adel im Niedergang
Halle (Saale)/MZ. - Literaturreklame neuen Typs: Es wird nicht mehr sachlich, sondern gestisch geurteilt. So ist auf dem Umschlag des Roman-Debüts von Eugen Ruge ein Zitat aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu finden: "Günter Grass ging beim gespannten Zuhören die Pfeife aus". Lesern, denen das nicht zwangsläufig als eine Sensation erscheint, muss man erklären: Ruge erhielt 2009 den von Grass gestifteten Alfred-Döblin-Preis. Der Literaturnobelpreisträger lauschte und schmauchte beim Vortrag des Autors. Dessen Preis-Manuskript gilt seitdem als Tellkamp-verdächtig. Also als das mögliche nächstgrößte ostdeutsche literarische Ding.
Und das um so mehr, als der Autor literarisch bislang nicht auffällig geworden war. Ruge, Jahrgang 1954, studierte Mathematik an der Humboldt-Universität in Ostberlin, war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Physik der Erde, arbeitete im Defa-Studio für Dokumentarfilme, bevor er 1988 in den Westen verschwand. Seitdem ist er hauptsächlich als Autor für Theater tätig.
Erstaunlich aber ist Ruges Herkunft. Er wurde 1954 nicht in Ostberlin, sondern im westsibirischen Soswa geboren. Denn: Eugen Runge ist ein Kind des Gulag - der Sohn einer Russin und eines deutschen Kommunisten, der im sowjetischen Exil 1941 als Zwangsarbeiter von Moskau weg nach Osten deportiert und 1956 in die DDR entlassen wurde. Sein Name: Wolfgang Ruge (1917-2006), marxistischer Historiker. Einer der vielen, die erst nach 1989 Klartext in eigener Sache schrieben - unter anderem in dem 2010 veröffentlichten Buch "Lenin. Vorgänger Stalins".
Womit wir bei der Sache wären, die der Kern dieses "Romans einer Familie" ist, der Roman einer ostdeutschen kommunistischen Sippe. Deren Gründerglaube an die "Sache" ist von keinerlei Tatsachen zu erschüttern, koste es, was es wolle. Sei es am Ende auch den Lebensmut - oder Verstand.
Der Erzähler, in dem man ein Alter Ego des Autors vermuten darf, zeigt in Zeitfenstern von 1959 an bis 2001 die Situation von vier Generationen: die der in die DDR aus dem "falschen", nämlich mexikanischen West-Exil eingereisten Großeltern, die der aus dem Gulag heimgekehrten Eltern - des Historiker-Vaters und der russischen Mutter -, die des im weltanschaulichen Clinch mit den Eltern hinlebenden Erzählers selbst und von dessen Sohn, der wiederum neben allen anderen steht. Der Roman trägt den etwas gespreizten Titel "In Zeiten des abnehmenden Lichts", womit das Verblassen eines offenbar einstmals sichtbaren Ideals gemeint sein soll. Tatsächlich ist es schon bei der Eröffnung des Romans zappenduster.
Wir erleben Kurt Powileit, den Historiker, 2001 in seinem Ostberliner Stadtrandhaus buchstäblich verlassen von allen guten Geistern. Ein vom Altersschwachsinn gezeichneter Greis: "Sein Mund war mit Pflaumenmus verschmiert, der Morgendienst hatte es wieder mal eilig gehabt. Seine Strickjacke war schief geknöpft...." Das einzige, was dieser Mann noch weiß, ist, dass er Nahrung aufnehmen muss, vielleicht ein Nachklang der fernen Gulag-Jahre, wie der Sohn vermutet. Der schildert den Alten schonungslos: Wie er mit den Händen Gulasch in sich hineinstopf und Rotkohl. Letzteren findet man im Roman an einigen Stellen: geschnitten, gekocht, gestampft.
Der Sohn begibt sich vom Ostberliner Stadtrand aus auf die äußere und sozusagen innere Reise des Romans: die äußere führt als Sinnsucher nach Mexiko, ins Exilland seiner Großeltern, die innere in die Geschichte der Großfamilie hinein. Wie in Jahresringen werden die kleinen Katastrophen dieser staatsnahen Existenz sichtbar gemacht. In Szenen und Sätzen wie diesem des Erzähler-Großvaters: "Der Kommunismus, Charlotte, ist wie der Glaube der alten Azteken: Er frisst Blut." Oder des Sohnes zum Historiker-Vater: "Vierzig Jahre lang hast du es nicht gewagt, über deine großartigen sowjetischen Erfahrungen zu berichten!"
Die Ruge-Prosa ist vor allem zuverlässig in der Schilderung lebensweltlicher Details. Wenn der SED-fromme Historiker-Vater und dessen aufsässiger Studenten-Sohn zum Beispiel 1979 Berlin-Mitte auf der Suche nach einer Gaststätte durchqueren, stimmt jedes sachliche und atmosphärische Detail. Am Ende landen die beiden in der Selbstbedienungsgaststätte am Alexanderplatz. Ab und an gelingen szenisch dichte Schilderungen von Familienfeiern oder -konfrontationen; manches Zeitfenster aber wirkt nur wie auftragsgemäß schriftlich ausgefüllt. Nicht immer ist sofort klar, welche Person aufgerufen ist. Schwächen zeigt das Ganze in seiner Motivation: Weder wird das Schweige-Rätsel der vorgeführten Altkommunisten erhellt noch wird klar, was der Erzähler in Mexiko sucht. Und was der Leser bei alledem eigentlich finden kann.
Unterm Strich haben wir es mit einem der seit nunmehr 20 Jahren üblichen Nomenklatura-Romane zu tun. Ein Buch aus der Rubrik: Die mitteilungsbedürftigen Kinder des Roten Adels berichten. Diese Art der Nacherlebens-Belletristik bildet den wahrscheinlich stärksten Strang der Nach-DDR-Literatur: 1991 eröffnet von Monika Marons "Stille Zeile Sechs", fortgesetzt von den Büchern von Barbara Honigmann, Irina Liebmann, Thomas Brasch oder Florian Havemann.
So erfährt man bei Ruge kaum etwas, was man nicht mindestens schon ahnte. Im Gegenteil: Manchmal erfährt man sogar weniger. Etwa dann, wenn der Erzähler von den Fürnberg-Versen "Die Partei hat immer recht" schwadroniert, dass "irgendein Waschlappen von Dichter" sich "nicht entblödet hatte", diese zu verfassen. Man weiß das längst genauer. Auch in den Zeiten abnehmenden Lichts - und erlöschender Tabakspfeifen.