Erwin Strittmatter Erwin Strittmatter: Am Rand des Erdauges
Halle (Saale)/MZ. - Er schreibt, schreibt, schreibt. Und zwischendurch verliert er die Nerven. So salopp lassen sich die 50er und 60er Jahre des 1912 in Spremberg geborenen Schriftstellers Erwin Strittmatter zusammenfassen. Immer wieder finden sich in den Tagebüchern des in Berlin-Mitte und im brandenburgischen Flecken Schulzenhof residierenden DDR-Vorzeigeautors und Literaturfunktionärs Einträge wie: "Ich war wieder ein Giftpilz, ein Rumpelstilzchen aus dem Grimm-Märchen."
Das klingt freundlicher als es war. Die Ausbrüche von Jähzorn müssen furchtbar gewesen sein. Nicht allein für Strittmatters dritte Ehefrau, die 1956 geheiratete Germanistin und künftige Dichterin Eva, Jahrgang 1930. Nicht allein für die drei gemeinsamen Söhne. Sondern auch für den Schriftsteller selbst. "Am Nachmittag mit Evchen und dem kleinen Erwin Bohnenstangen aus dem Wald geholt. Wir waren eine heitere Familie und küssten uns abwechselnd auf dem Ponywagen. Auf dem Rückweg schlug wie ein Blitz der Zank ein. Ich schrie heftig und verlor beinahe die Beherrschung."
Es ist immer wieder Eva ("die einzige, die mir helfen kann"), die Strittmatter aus seinen zuweilen tagelangen Ausnahmezuständen reißt. Aus der aggressiven Abwehr und absoluten Verhärtung nach außen. Diese Einsätze haben für Eva Strittmatter ihren Preis. "Sie glaubt sich von mir vergewaltigt", schreibt der Choleriker Strittmatter 1956. "Sie weiß aber auch nicht, wie sie sonst leben will."
Wie ein alarmroter Faden durchziehen diese psychosozialen Befunde die Tagebücher Strittmatters, die nun in einer ersten Auswahl vorliegen, die Almut Giesecke aus dem Nachlass des 1994 gestorbenen Schriftstellers vorgenommen hat. 245 Hefte im Din-A6-Format sind überliefert, größtenteils sogenannte Vokabelhefte. Im Juli 1954 beginnen und im Dezember 1973 enden die Notate der für den Druck mit viel zu vielen Auslassungszeichen gelöcherten Lieferung. Vielleicht ist man mit diesen Eck-Klammern etwas zu vorauseilend personenrechtlichen Streitigkeiten aus dem Weg gegangen. Sehr auf Kosten des Gesamttextes jedenfalls, der - mehr als 20 Jahre nach dem Ende der DDR! - nicht mehr aus sich selbst heraus verständlich ist: Manches erscheint in seinen Übergängen zusammenhanglos, mehr luftig gehäkelt als gestrickt.
Kein literarisches Werk aus eigener Kraft liegt hier vor - dafür ist das Notierte zu wenig gestaltet, zu wenig durchdacht und das Banale nicht nur schrammend. Aber ein literatur- und kulturhistorisches Zeugnis ist diese Auswahl eben doch, die Auskunft gibt über das Werden des sozusagen einzigen relevanten "Bauern"-Schriftstellers ("Ole Bienkopp", "Der Laden") des Arbeiter- und Bauernstaates DDR.
Dem hatte sich der vormalige Hilfsarbeiter und SS-Polizei-Gebirgsjäger nach außen hin sichtbar und mit allen Vorteilen verschrieben, um zur Nacht seine sich bis zum Ekel steigernden Schmähungen zu notieren. Die Kladde als Blitzableiter. Und Strittmatter, der doch mit Nationalpreisen geehrt wurde und von 1973 an als Vize-Chef des Schriftstellerverbandes präsidierte, warf viele Blitze in viele Richtungen. Aber immer nur unter der Schreibtischlampe.
Gegen die Kulturfunktionäre: "In Wirklichkeit betrachten sie uns als Hilfsknechte." Gegen den Staatschef Ulbricht: "halb gebildet und rechthaberisch", ein "Prügler mit Klemmer". Gegen die aus dem Moskauer Exil heimgekehrten Kommunisten: "Ihr aber habt zugelassen, dass in der Sowjetunion Kommunisten von machtgierigen Diktaturen umgebracht wurden."
Kollegen kommen bei Strittmatter schlecht weg, vor allem solche, die wirklich etwas können. Über Heiner Müller: "Revoluzzer und Konterrevolutionär". Stephan Hermlin: "intellektueller Hochmut". Enzensberger: "Schwätzer", "Klugscheißer". Ein Intellektuellenkomplex zeigt sich da, der sogar Strittmatters Verhältnis zu Brecht eintrübt, der den landproletarischen Autor früh als ein naives Genie vorzeigte und an sich band.
Die Notizen über Brecht gehören zum Besten, was diese Auswahl zu bieten hat. Wunderbar wie Strittmatter durch den Schnee radelt, um eine Telefonzelle für die Neujahrswünsche an Brecht zu finden. Interessant Brechts Verdikt gegen Schriftstellerschulen: "unmöglich". Wenn überhaupt: sollte ein Autor "einen persönlichen Meister haben". Vernichtend Strittmatters Urteil über die Brecht-Gattin Weigel: "kann kein Theater leiten". Brechts intellektuelle Effekthascherei wird Strittmatter selbst zum Ärgernis.
Auf alles, was Strittmatter unternimmt, schlägt die seelische Verfasstheit seiner Herkunft durch: das Gewaltbereite, Eigenbrötlerische, Selbstausbeuterische. Etwas zu bauernschlau passt sich der Autor nach außen hin an, was zur Folge hat, dass er nach Innen, in seinen Kladden, nicht wirklich etwas Kluges mitzuteilen hat. Zum Mauerbau gibt es keine Notiz. Nichts zu Strittmatters Kriegsvergangenheit. Interessant ist seine Abkehr vom Marxismus hin zu einer nichtchristlichen Naturfrömmigkeit, selbstverständlich ohne die SED zu verlassen, woran er aber denkt.
Meditation statt "Rotlicht": Damit enden die Einträge dieser Auswahl. Am Silvestermorgen 1973 blickt Strittmatter auf den Thörn-See - vom "Rand dieses Erdauges" aus. "Sagen wir also, wir gehen an den Seerand zum Meditieren, so oft es die Umstände erlauben."